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Rasta Zeneca auf dem Balkan Trafik Festival in Brüssel.

© David Vannucci

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (28): Wie ich mich in Brüssel sehr einsam fühlte

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

30. April 2022

Anfang der 2000er eroberte der osteuropäische Sound schlagartig den Westen. Unwahrscheinliche Popstars, rumänische und serbische Blaskapellen, waren überall zu hören. Neben den Techno-Raves und Reggae-Partys fanden auf einmal in jedem Club Diskos mit ausschließlich osteuropäischem Repertoire statt.

In diesen schönen Zeiten schwärmten meine Musikerkollegen oft von Balkan Trafik, dem Festival in Brüssel mit tollem Programm, dankbarem Publikum und leckerem belgischen Bier. Die enorme Popularität dieser Musik hat nachgelassen, doch Balkan Trafik hat überlebt.

Es ist mein erster Festivalauftritt seit zwei Jahren

Dieses Jahr bin ich eingeladen, mit der achtköpfigen Band Rasta Zeneca ein Teil des Programms zu sein. Ich lande am Brüsseler Flughafen und bemerke als erstes die blauen-gelben Fahnen an jedem Werbedisplays. “Our hearts go out to Ukrainian people”, steht da.

Rasta Zeneca ist eine internationale Band, ihre Mitglieder kommen nicht nur aus Belgien, sondern auch aus Frankreich und Spanien. Alle reisen einen Tag früher an, um zu proben. Mit manchen von ihnen haben ich kurz vor dem Corona-Ausbruch gearbeitet, es ist schön, sie wieder zu treffen. Wir umarmen uns, als ob wir uns erst gestern gesehen haben.

Das Bier fließt und ich hätte mir gewünscht, auch trinken zu können, um mich endlich zu entspannen. Aber ich kann nicht trinken und abschalten klappt auch nicht Der Plan ist, dass die Band zuerst einige Songs allein spielt und anschließend die Gastsänger dazukommen – für vier Lieder ich und dann Amparo Sanchez von Amparanoia. Seit bestimmt 20 Jahren habe ich ihr Album in meinem CD-Regal, ich habe es früher gern gehört und aufgelegt, auch den Song „Somos Viento“, wo neben Spanisch auf Russisch gesungen wird. Bei der Probe stelle ich fest, dass das Lied auch bei unserem gemeinsamen Konzert dabei ist.

Als wir am nächsten Tag auf der Bühne stehen, klappt alles viel besser, als ich nach dem chaotischen Soundcheck befürchtet habe. Es ist mein erstes Festival seit zwei Jahren, es ist ausverkauft, das Publikum freut sich. Die Musiker sind euphorisiert, sie dürfen wieder spielen! Ich sollte mich auch freuen. Aber gerade geht das nicht. Wie es aussieht, bin ich der einzige Ukrainer auf der Festivalbühne. Ich sage den 3000 Gästen, sie sollen bitte nicht aufhören, die Ukraine im Krieg gegen die russischen Monster zu unterstützen.

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Nach uns spielt Goran Bregović, wahrscheinlich der größte Star der Balkanmusik der letzten 30 Jahre. Die Begeisterung ist vor und auch hinter der Bühne zu spüren. Plötzlich ist der Raum zwischen der Künstlergarderoben voll mit Frauen in langen bunten Röcken, die gern mit dem Maestro ein Selfie knipsen wollen. Auch ich war mal Fan – bis zum Jahr 2015, als Herr Bregović auf der von russland okkupierten Krim gespielt hat. In seinen Interviews sagt er oft, er sei apolitisch. Und gegen Kriege, natürlich.

Auf der Bühne tritt Bregović ganz in Weiß auf. Er und sein Orchester für Hochzeiten und Begräbnisse beginnen ihr Set. Der Maestro stellt seine Musiker vor. Der Frauenchor rechts von ihm kommt aus Bulgarien, sagt er, die Bläser links sind aus Serbien. Das Publikum jubelt. Ich lade meine E-Gitarre und den schweren Verstärker in den Minibus ein.

Auch Amparo Sanchez ist hier. Weil ich mir nicht die Greatest Hits von Bregović anhören will und gleich gehen werde, ist jetzt vielleicht die letzte Möglichkeit, mit ihr zu sprechen. „Amparo“, frage ich, „warum singst du in ,Somos Viento’ auf Russisch?“ Sie hatte mal eine Babysitterin aus Moldawien, erzählt sie mir, und als Amparo einen Refrain in einer osteuropäischer Sprache schreiben wollte, schlug diese ihr Russisch vor, denn so würden auch alle anderen Osteuropäer den Text verstehen.

Interessant, wie sich die Zeiten verändern und damit auch die Bedeutung von Songs. Und so sage ich, dass es mir gerade schwer fällt, auf Russisch zu singen. Amparo kann das nicht nachvollziehen, „Aber die russen sind doch ganz traurig wegen dem Krieg“, erwidert sie. Ich glaube, ich verstehe sie nicht ganz, vielleicht liegt es daran, dass wir Englisch sprechen oder ist die Musik einfach zu laut.

„In the death car we’re alive“, singt Bregović, und der Frauenchor antwortet mit langem, schönen „Aaaaaaaaa“. „Leider kann ich dir nicht zustimmen, es sind gerade ganz viele russen in meinem Land, Amparo! Ich glaube nicht, dass sie traurig sind!“, sage ich. „Aber das sind doch keine russen,“ widerspricht sie mir. „Das sind… Soldaten! Die Soldaten tun überall das Gleiche, sie bringen Menschen um ... die amerikanischen Soldaten...“

Ich überlege kurz, ob ich mich auf eine Diskussion einlassen möchte. In diesem Moment hören wir die ersten Töne von Goran Bregović’ größtem Hit, „Kalasjnikov“. „Ich LIEBE diesen Song!“, sagt Amparo und singt mit. Ich habe diesen Song auch irgendwann geliebt, aber jetzt möchte ich nur noch kotzen.

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Yuriy Gurzhy

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