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Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt, geboren 1943 in Boston.

© Rose Lincoln / Random House

Stephen Greenblatts „Der Tyrann“: Wie Shakespeare Donald Trump erklärt

Gegenwart als Subtext: In seinem neuen Buch „Der Tyrann“ untersucht Stephen Greenblatt das Politische im Werk William Shakespeares.

Am 8. Oktober 2016, genau einen Monat vor der die Welt überraschenden Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, erschien in der „New York Times“ ein Meinungsbeitrag des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt. Der Text trug die Überschrift „Shakespeare Explains the 2016 Election“.

Tatsächlich erklärte Greenblatt vermittels William Shakespeare und dessen Ende des 16. Jahrhundert entstandenem Schurkenkönigsdrama „Richard III.“, was für die USA auf dem Spiel stand: eine von Demagogie statt Demokratie bestimmte Wahl und die Machtergreifung durch einen skrupellos egomanischen, populistisch statt politisch versierten Usurpator. Greenblatt verstand Shakespeare so als Mahnung an die Wähler im Herbst 2016. Das war, als fast alle Leser der „New York Times“ noch einen ganz anderen Ausgang der Wahl erwarteten, von großer Hellsicht. Doch den Namen Donald Trump hatte Greenblatt in seinem Aufsatz kein einziges Mal erwähnt.

Auch in seinem im Frühjahr in den USA und nun auf Deutsch erschienenen jüngsten Buch nennt der international renommierte Spezialist für den Geist der Renaissance und die Geister des Elisabethanischen Zeitalters den Namen Trump (oder andere Politiker der Gegenwart) mit keinem Wort. Das Buch heißt: „Der Tyrann“, Untertitel im Amerikanischen „Shakespeare on Politics“, im Deutschen dagegen etwas pointierter „Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert“ (Übersetzung Martin Richter, Siedler Verlag, Berlin, 219 Seiten, 20 Euro).

Ein hochgebildeter, aber auch oft konventioneller Autor

Greenblatt, der in wenigen Tagen seinen 75. Geburtstag feiert, macht im Grunde das, was vor der Mode der völligen Dekonstruktion auch raffinierte Theaterinszenierungen getan haben. Greenblatt entdeckt die Gegenwart als verborgenen Subtext der in der Vergangenheit spielenden Stücke – mit ihrer den eigenen Entstehungshorizont überschreitenden Antizipationskraft aller großer Kunst.

Macht- und Habgier, politische Intrigen, die Korruption von Einzelnen und von Volksmassen, all das steckt in Shakespeares „Richard II.“ und „Richard III.“, in „Macbeth“, in „Coriolan“, „Julius Caesar“ oder selbst im „König Lear“. Ebenso die Umwertung aller Werte und die Persönlichkeitsveränderung durch Reichtum, Sex und Macht, die mögliche Disposition zu Tyrannei, Sadismus gar und am Ende meist: Selbstzerstörung.

Das Problem bei dem häufig auch etwas kritiklos bewunderten Pulitzer-Preisträger und Harvard-Professor Greenblatt ist freilich, dass er zwar ein hochgebildeter, wunderbar flüssig schreibender Autor ist. Aber zugleich einer durchaus common- sense-haften, manchmal gar akademisch konventionellen Harmlosigkeit verhaftet bleibt. Man konnte das schon in seiner populären Shakespeare-Biografie „Will in der Welt“ (2004) erkennen, die alle Zweifel an der realen Autorenschaft jenes Mannes beiseite ließ, der als eher provinzköpfig und gar analphabetisch wirkender Pfeffersack Jahre nach der Theaterkarriere in Stratford verstorben ist.

Es geht um Phänomene wie Terrorismus und Populismus

Auch jetzt erzählt Stephen Greenblatt im „Tyrann“ überwiegend nur die Handlungen und Personen der mit politischen Motiven reich beladenen Shakespeare- Dramen nach. Wobei der amerikanische Originaltitel den bestimmten Artikel im Gegensatz zur ansonsten vorzüglichen Übersetzung von Martin Richter bewusst weglässt. Also „Tyrant“, nicht „The Tyrant“. Damit erhebt Greenblatt keinen Anspruch, etwa mit Machiavellis „Der Fürst“ (engl. „The Prince“) als historischer Schlüsselstudie zum Renaissanceherrscher zu konkurrieren. Auch moderne, gewichtige Untersuchungen zum Totalitarismus, etwa von Hannah Arendt, blendet Greenblatt bewusst aus. Er bleibt ganz bei Shakespeare.

Obwohl „Der Tyrann“ an Dichte und Originalität nicht an Jan Kotts frühere Interpretationen von Shakespeares Machtspielen in seiner längst legendären Essay-Sammlung „Shakespeare heute“ heranreicht, liest man Greenblatt im Lichte der Aktualität doch mit Gewinn. Greenblatt beschreibt, wie der Dichter im England von „Elisabeth I.“ Motive der damaligen Gegenwart, um nicht Kopf und Kragen zu riskieren, ingeniös auf vergangene Zeiten verschiebt. Antike und Mittelalter meinen Shakespeares Jahrhundert, aus dem heraus Greenblatt wiederum Phänomene wie Terrorismus und Populismus explizit herausliest. Ohne dazu die Namen von heute eigens nennen zu müssen.

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