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An Guaden! Österreichs später unter Dollfuß opportunistischer Bundespräsident Wilhelm Miklas bei der Eröffnung der Wiener Kochkunst-Ausstellung (um 1930).

© picture-alliance / IMAGNO/Austri

Kleiner Alltag, große Geschichte: Wiener Strudel

Geistige Enteignung einer Jüdin: Die Historikerin Karina Urbach begibt sich auf die Spuren ihrer Großmutter Alice.

Sie war eine Frau am Herd: eine erfolgreiche, moderne. Dabei hatte die höhere Tochter, in einer sonnigen Villa in Wien aufgewachsen, erst mal einfach Pech gehabt. Ihr Mann verspielte die riesige Mitgift, nach seinem frühen Tod musste die alleinerziehende Mutter, vom Vater enterbt, Geld verdienen. Gebildet, aber zu nichts ausgebildet, begann Alice Urbach mit einem Cateringservice, baute eine populäre Kochschule auf, hielt Vorträge für „Das Girl am Herd“, gründete einen Lieferservice für die berufstätige Frau – und schrieb 1935 einen Bestseller: „So kocht man in Wien!“

Wer war der ominöse Ersatzautor?

So kochte man in Wien auch nach dem Anschluss und der Vertreibung der Jüdin – nur dass der Verlag das Buch, leicht verändert, unter einem anderen Namen herausbrachte: Rudolf Rösch. Ob es den Mann überhaupt gegeben hat, hat auch Alices Enkelin Karina Urbach nicht herausfinden können.

Dafür vieles andere, was sie in ihrem Werk „Das Buch Alice – Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten“ erzählt. Alice wurde um ihr geistiges Eigentum gebracht. „Man stahl es genauso, wie man anderen jüdischen Besitz stahl – Häuser, Firmen oder Autos –, nur sehr viel diskreter.“

[Karina Urbach: Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten. Propyläen, Berlin 2020. 432 S., 25 €.]

Kochen kann Karina Urbach selber nicht, wie sie gleich in der ersten Zeile bekennt. Aber schreiben: anschaulich, lebendig, spannend. Was die Historikerin zutage gefördert hat, ist praller Filmstoff – Verfolgung, Mord, Betrug, Inhaftierung, Flucht, Rettung, Freundschaft, Geheimdiensttätigkeiten, Aufstieg, Fall und Neuanfang ... Urbach erzählt spannend, ja, filmisch, schneidet zwischen verschieden Orten und Erzählsträngen hin und her, endet Kapitel wie im Krimi mit Cliffhangern.

Hände ja, Gesicht nein

Wobei auch sie, trotz ausgedehnter Recherche, die sie auf mehr als 80 Seiten am Ende dokumentiert, nicht alle Rätsel und Ungereimtheiten lösen kann. Etwa, warum das Kochbuch kein Autorenfoto enthielt. Ihre Vermutung: Alice habe zu jüdisch ausgesehen, als dass ein Verlag das 1935 riskiert hätte. In dem Bestseller über die Wiener Küche sieht man nur Alices Hände, wie sie Strudel aufrollt oder Teig bepinselt.

Diese Bilder stellt Urbach als runde Vignetten über jedes Kapitel – in ihrer Mehlspeisenharmlosigkeit ein ironischer Kommentar zu der Dramatik und Perfidie dessen, was sie im Text schildert. Darin weist die Autorin immer wieder auf die Erlebnisse der Namenscousine ihrer Großmutter, Alice im Wunderland hin, so das Surreale, Groteske des Geschehens betonend.

Urbach ist nah dran, ohne persönlich zu werden, weswegen sie auch nicht von ihrer Oma, sondern durchgehend von Alice spricht. Die gebürtige Deutsche hat als Historikerin in Cambridge promoviert, forscht inzwischen in Princeton und ist entsprechend von der angelsächsischen Tradition geprägt: dass man auch als Wissenschaftlerin verständlich, packend und mit Witz für ein großes Publikum schreiben kann.

Schon einmal hat sich die Biografin Queen Victorias mit dem Nationalsozialismus beschäftigt: In dem Buch „Hitlers heimliche Helfer“ ging es um die Verbindung zwischen dem deutschen und britischen Adel und Hitler. So geht es auch hier immer um mehr als das Schicksal einer – außerordentlich starken – Frau, die im englischen Exil ein Kinderheim für geflohene jüdische Mädchen leitete.

Unaufdringlich bettet Urbach ihre Familiengeschichte in die historischen Zusammenhänge ein. Und zeigt, dass der Betrug an der Großmutter kein Einzelfall ist. Nur ist die Arisierung von Büchern ein, wie sie schreibt, noch immer unerforschtes Gebiet.

Eine Stunde null hat es nie gegeben

So sachlich die Autorin ihre Geschichte erzählt, so deutlich wird ihre Empörung über das Verhalten des Reinhardt Verlags weit über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus. Eine Stunde null, das macht die Historikerin sehr deutlich, hat es auch hier nie gegeben.

Der Neffe des Verlagsgründers hat nicht nur unter politischem Druck Unrecht getan. Er hat es bis weit in die Nachkriegszeit hinein fortgesetzt. Ansprüche von Alice Urbach wie die eines anderen wichtigen Autors hat er abgebürstet, ihr Urheberrecht verleugnet, ja, sie sogar verleumdet, und zugleich weiter mit ihnen Geschäfte gemacht.

Urbach hatte Glück: Sie konnte aus einer Fülle von Dokumenten schöpfen, Briefen und Erinnerungen, aus denen sie ausführlich zitiert. So wird der Leser von Alice selbst über ihre Hochzeitsnacht informiert, die so unerquicklich war wie der Rest der Ehe („es dauerte nur ein paar Sekunden, dann rauchte er eine Zigarette und schlief ein“).

Umso erstaunlicher und bedauerlicher, dass Urbach nicht aus dem Kochbuch selber zitiert. Sie erzählt, dass es ihrer Großmutter neben den Klassikern der Wiener Küche schon damals um vegetarische Kost ging, aber wie Alice Urbach, die so gern redete, geschrieben hat, erfährt der Leser nicht.

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Ganze Briefe werden in den Text eingeblockt, aber nicht ein einziges ganzes Rezept. Und das, obwohl die Historikerin betont, welchen Stellenwert Bücher und das Verfassen von Büchern in der jüdischen Familie hatte. Vielleicht hängt es mit Karina Urbachs Desinteresse am Kochen zusammen. Aber es wirkt, als würde sie ihre Großmutter, die mit über 90 in den USA als Kochlehrerin noch mal Furore machte, als Autorin nicht ganz ernst nehmen.

Doch vielleicht kann man das Kochbuch bald ganz lesen: Letzte Woche gab der Reinhardt Verlag der Familie die Rechte an „So kocht man in Wien!“ zurück. Es macht nicht all das Unrecht an Alice und die Ermordung von drei ihrer Schwestern durch die Nazis rückgängig. Aber es ist, wie die Historikerin sagt, „eine Art von Happy End“.

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