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Neustart mit Hindernissen. Matt Fidler führt die europäischen Geschäfte des US-Labels Thrill Jockey nun von Friedrichshain aus.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

„Wir kamen an, als es los ging“: Dieses Label floh vor dem Brexit nach Berlin - mitten in der Coronakrise

Matt Fidler wollte mit seinem Gitarrenmusik-Label Thrill Jockey den Unwägbarkeiten des Brexits entkommen. Und landete in ganz anderen. Ein Porträt.

Von Andreas Busche

Ein ganz normaler Sommernachmittag an der Warschauer Brücke. Der Touristenstrom, der im Minutentakt aus der S-Bahn gespült wird, verschmilzt mit der typischen Friedrichshainer Mischung aus Punks, Drogendealern und Straßenmusikern. Der Gestank aus Abgasen, Urin und Bier gärt in der Hitze vor sich hin, eine Trinkhalle an der Ecke preist den Gerstensaft als perfektes Frühstücksgetränk an.

Der ganz alltägliche Wahnsinn also. Als Einheimischer hat man sich an dieses Bild am Übergang von Kreuzberg und Friedrichshain gewöhnt, er gehört schon zur Berliner Folklore.

Zu gern würde man wissen, was der Chicagoer Musiker Sam Prekop in diesem Berliner Flecken sehen würde. Prekop hat einen unbefangenen Blick auf die Straßen, durch die er spaziert. Auf seinen Touren, solo und mit seiner Avantpopband The Sea and Cake, fotografiert er seit Mitte der neunziger Jahre all die Orte, von denen man im wochenlangen Touralltag, der oft nicht weiter als vom Hotel bis zum Club reicht, allenfalls einen flüchtigen Eindruck bekommt.

Nach einigen Wochen verschwimmen die Städte zu einer Melange, seine Fotos geben Prekop wieder einen Sinn für die Realität. Auch seine Wahlheimat Chicago ist bestens dokumentiert. Es sind die peripheren Momente, die ihn auf seinen Streifzügen interessieren: ein verrammeltes Gebäude, ein leerer Straßenzug.

Prekops Fotos sind gerade in Berlin zu sehen, ihre Präsentation ist genauso beiläufig wie die Wahl der Motive. Sie zieren die Wände des Friedrichshainer Plattenladens „Bis aufs Messer“, nur einen Steinwurf vom RAW-Gelände entfernt. Hier hängen sie zwischen Hardcore-, Indie- und Folk-Plattenkisten, eines der bestkuratierten Angebote in Berlin.

Platten und Kartons bis unter die Decke

Eigentlich hätte Prekop im Juli zur Eröffnung der kleinen Ausstellung im Laden spielen sollen, der Corona-Lockdown machte die Pläne seines Labels Thrill Jockey zunichte. Nun müssen die Fotos für sich selbst sprechen.

Prekops neue Songs, die von seiner Straßenfotografie inspiriert sind, erscheinen am 11. September auf „Comma“, seinem fünften Album für Thrill Jockey. Das ist doppelt schade, denn ursprünglich waren Konzert und Ausstellung als Willkommensparty für das Chicagoer Label geplant, das im Frühjahr sein Londoner Büro brexitbedingt nach Berlin verlegt hatte.

Seit Mai operiert Matt Fidler aus einem Hinterzimmer von „Bis aufs Messer“. In dem kleinen Raum stapeln sich Platten und Kartons bis unter die Decke, mittendrin sitzt Fidler vor einem Rechner, managt die Geschäfte, kümmert sich um die Promotion und bearbeitet die Bestellungen.

Zeitpunkt des Umzugs war denkbar ungünstig

Ein Angestellter ist nicht viel für ein mittelgroßes Indielabel wie Thrill Jockey, das sich seit den Neunzigern um die Ränder der Gitarrenmusik kümmert – von den Postrockern Tortoise und Trans Am, über Bobby Conn, den Berliner Produzenten Oval bis zu Lightning Bolt und die Blackmetal-Band Liturgy. Aber heutzutage ist es schon ein Luxus, sich als unabhängiges US-Label überhaupt eine europäische Niederlassung zu leisten. Die Coronakrise hat die Situation nicht gerade erleichtert.

„Der Zeitpunkt für einen Umzug war denkbar ungünstig, wir kamen gerade in Berlin an, als es losging“, meint Fidler im Gespräch vor dem Plattenladen, das alle paar Minuten von Sirenen unterbrochen wird. „Doch die Krise hat unsere Künstler härter getroffen als uns. Viel Plattenläden haben mit dem Online-Geschäft schnell reagiert, unsere Fans kaufen mit dem Geld, das sie sonst auf Konzerten ausgeben, jetzt eben mehr Platten.“ Aber an Touren, die für Musikerinnen und Musiker längst die wichtigste Einnahmequelle bedeuten, ist auf absehbare Zeit nicht zu denken. Im Herbst stauen sich zudem die Veröffentlichungen.

Folgen sind schwer abzuschätzen

Zwischen der sehr realen Coronakrise und dem Damoklesschwert des Brexit ist die Zukunft der Musikbranche gerade ungewiss. „Viele Labels in England müssen überdenken, wie sie künftig in Europa operieren werden. Noch warten die meisten ab“, sagt Fidler.

„Aber wir als kleines Label müssen mit unseren finanziellen Ressourcen vorsichtig planen. Darum war es wichtig, den Brexit zu antizipieren.“ Momentan seien die Folgen schwer abzuschätzen, weil die Informationspolitik der Regierung sehr undurchsichtig sei. Der Brite Fidler rechnet mit langwierigen Verhandlungen.

[Prekops „Comma“ erscheint am 11. 9. bei Thrill Jockey. Seine Fotos sind bei „Bis aufs Messer“, Marchlewskistr. 107, zu sehen.]

Gut möglich, dass weitere Labels dem Beispiel von Thrill Jockey folgen werden. Er schätzt, dass der Brexit besonders die englische Musikszene treffen wird. „In England gibt es immer weniger Auftrittsorte für kleine Bands. Und wenn sie künftig in Europa touren wollen, müssten sie mit höheren Zollkosten und Visagebühren kalkulieren.“

Von der Berliner Do-It-Yourself-Kunst beeinflusst

Für Thrill Jockey war Berlin unabhängig vom Brexit-Votum eine logische Entscheidung. London ist ein teures Pflaster, außerdem hat Labelgründerin Bettina Richards früh Kontakte nach Deutschland gepflegt. Sie veröffentlichte Alben von Mouse on Mars, Schlammpeitziger und Oval, im Gegenzug hat das Berliner Label City Slang Bands wie Eleventh Dream Day, Tortoise und The Sea and Cake für Europa lizensiert.

„Bettina ist von der deutschen Kunstszene beeinflusst, speziell der Do-It-Yourself-Kunst, die Ende der Siebziger aus Berlin kam“, meint Fidler.

Jemand wie Sam Prekop, der sich wie selbstverständlich an der Grenze von Musik und Bildender Kunst bewegt, ist daher nicht untypisch für Thrill Jockey, das Fidler eher als Kollektiv beschreibt. Die Bands sind sich freundschaftlich verbunden, viele Kontakte entstehen außerhalb der Musik.

Auch Prekops Vorlieben haben sich in den vergangenen Jahren in Richtung Deutschland verschoben, auf „Comma“ sind die Spuren von Krautrock und kosmischer Musik, Einflüsse wie Tangerine Dream, Manuel Göttsching und die Arbeiten von Cluster mit Brian Eno nicht zu überhören.

Das Albumcover, ebenfalls in der Ausstellung zu sehen, zeigt einen Vogel auf einer Straßenlaterne vor einem wolkenlosen blauen Himmel. Ein Zitat des ersten Cluster&Eno-Albums, aber auch ein atmosphärisch stimmiges Bild für die urbanen Räume, die Prekops minimalistische Soundlandschaften evozieren.

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