zum Hauptinhalt
Schalttafel des ehemaligen Kernforschungszentrums in Karlsruhe. Das Foto stammt aus „Unter Kontrolle“.

© Sattel/Stefanescu

Atomkraft: Wir wissen nichts, aber Bescheid

Zwei erhellende Dokumentarfilme über Tschernobyl und die Folgen: Heute zeigt Arte Karin Jurschicks "Die Wolke", und Anfang Mai kommt Volker Sattels "Unter Kontrolle" ins Kino.

Es sind zwei Filme, die – wäre alles so, wie es noch vor wenigen Tagen war – viel später hätten ausgestrahlt oder auch im Kino gestartet werden sollen. Es sind zwei deutsche Dokumentarfilme, die weder von Japan noch von den Wirren der aktuellen deutschen Atompolitik sprechen, und doch erhellen sie, der eine historisch forschend, der andere ästhetisch deskriptiv, die Aktualitäten in Japan und in Deutschland auf aufregende Weise. Am heutigen Mittwoch, 20.15 Uhr, hat Arte die spannende Doku „Die Wolke – Tschernobyl und die Folgen“ von Karin Jurschick kurzfristig ins Programm genommen; und Volker Sattels meditative Besichtigung der reichlich historisch anmutenden deutschen Atomkraftwerke, „Unter Kontrolle“ kommt statt im Herbst bereits Anfang Mai ins Kino.

Karin Jurschicks Blick auf Tschernobyl und die damaligen medialen und gesellschaftlichen Folgen ist erst vor zwei Wochen fertig geworden und doch dem aufmerksamen Fernsehzuschauer, zumindest in Teilen, schon vertraut. Denn die ARD entschied schnell und nahm am vergangenen Sonnabend, Tag 1 der japanischen Atomkatastrophe und des folglich auch televisionären Ausnahmezustands, statt „30 Jahre Musikantenstadl“ eine 45-Minuten-Kurzversion von Jurschicks Film ins Programm. Zwischen „Brennpunkt“ und „Tagesthemen“ lud die Doku drei Millionen gebannte Zuschauer auf eine Zeitreise in die achtziger Jahre ein: Es war das Jahrzehnt, in dem CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann, CDU-Gesundheitsministerin Rita Süssmuth und im übrigen riesige Brillen, riesige Puffärmel und kuriose Fönfrisuren regierten – und die Angst des Volks vor Strahlenschäden nach Tschernobyl.

Eigentlich ist der 90-Minüter „Die Wolke“ ein klassischer Jubiläumsfilm, geplant zum Jahrestag des Super-GAUs von Tschernobyl am 26. April 1986. Und er hat doch, entworfen von der auch durch sorgfältige Kinoarbeiten („Danach hätte es schön sein müssen“) bekannten Dokumentaristin, so gar nichts von einer Pflichtübung. Vielmehr erzählt er im steten Wechsel zwischen Archivaufnahmen und aktuellen – teils reumütigen – Interviews damaliger Protagonisten, wie die Verstrahlungsgefahr in der Bundesrepublik überwiegend heruntergespielt, in der DDR totgeschwiegen und in Frankreich sogar wochenlang lächerlich gemacht wurde.

Angefangen hatte das weltweite Wissen um Tschernobyl erst zwei Tage nach der Katastrophe – im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark: Ingenieur Cliff Robinson stellte an seinen Schuhen eine so hohe Kontamination fest, dass er dachte: „Ist irgendwo eine Atombombe gezündet worden?“ Und es endete, zumindest in Deutschland, mit einem gewaltigen Protest jenseits politischer Lager und einem Baustopp für neue AKWs, der – Ausstieg hin, Moratorium her – bis heute hält.

Technik-Denkmal. Kühlturm des „Schnellen Brüters“ Kalkar, der nie in Betrieb ging und jetzt als Freizeitpark dient.
Technik-Denkmal. Kühlturm des „Schnellen Brüters“ Kalkar, der nie in Betrieb ging und jetzt als Freizeitpark dient.

© Sattel/Stefanescu

Einigen Raum schenkt der Film dem gewesenen Staatsmann Joschka Fischer, der hoch unterhaltsam zurückblickt auf seine jungwilde Zeit als hessischer Umweltminister, als er die Wucht besorgter Mütter zu spüren bekam und an der innerdeutschen Grenze kontaminierte OstblockLastwagen in die DDR zurückschickte. Aber er zeigt eben auch – und das gibt der Recherche Substanz – den letzten Überlebenden der stark strahlenbelasteten VEBKolonne, die damals im thüringischen Mühlhausen „ohne Schutzkleidung, mit Wasserschlauch und Bürste“ eben jene Lastwagen vor der erneuten Fahrt nach Westen abwaschen musste.

Dass die DDR-Offiziellen und der sowjetische Botschafter Vernebelungspolitik betrieben, nun, das ist keine heftige Überraschung. Dass die Atommacht Frankreich sogar mit Stoppschildern auf den Wetterkarten dem Fernsehpublikum zu suggerieren trachtete, die verseuchten Wolken würden an der deutschen Staatsgrenze kehrtmachen: Man möchte es für Satire halten. Kaum zu toppen aber ist die Desinformationspolitik des CSU-Bundesinnenministers. Erst verbot Friedrich Zimmermann dem Deutschen Wetterdienst, beunruhigende Radioaktivitätsdaten weiterzugeben, dann pries er die deutschen Reaktoren als „die teuersten, aber auch besten der Welt“, und überhaupt schloss er jegliche Gefährdung für Deutschland durch Tschernobyl kategorisch aus: „Obwohl wir über keine genauen Informationen verfügen, ist die Lage bei uns unter Kontrolle.“

Diese bemerkenswert absurde Aussage – kommt sie Otto Normalkatastrophennachrichtenverbraucher nicht bemerkenswert aktuell vor? Wie hilflos stand und steht der japanische Ministerpräsident vor den Mikros? Und ist der Zimmermann-Satz in seiner philosophischen Tiefe nicht bis heute das Credo der Atomwirtschaft mit dem schwarzgelben Radioaktivitätslogo ebenso wie der schwarzgelben Bundesregierung – oder zumindest bis gestern, als sie einen drei Monate halten mögenden Abschaltungsbeschluss für sieben Atomkraftwerke fasste?

„Unter Kontrolle“: Mit diesem Zimmermann-Wort ist Volker Sattels stilistisch ganz andere und nicht minder erfahrungsgewinnbringende Doku überschrieben, die im Forum der jüngsten Berlinale Eindruck machte und nun statt Anfang September in wenigen Wochen bundesweit ins Kino kommt. Sattel besichtigte quer durch Deutschland und Österreich aktive, stillgelegte und abgewrackte Kernkraftwerke und Forschungsreaktoren wie ein sehr genau hinsehender, neugieriger, kaum je nachfragender Tourist. Das visuell und dramaturgisch fast puristische Konzept ist dabei von der ersten Einstellung an klar: Die Bilder sollen für sich sprechen. Und sie sprechen – gegen den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke.

Volker Sattels Reise in die heutige Wirklichkeit dieser Anlagen wirkt fast noch entlegener als Jurschicks Rückgriff in die Achtziger Jahre. Die riesigen Kontrollräume voll roter Leuchtschriftanzeigen und blinkender An-Aus-Knöpfe: Jede Wette, dass schon Stanley Kubrick 1968 ein solches Setdesign für „2001 – Odyssee im Weltraum“ als total veraltet verworfen hätte. Und wer, als Zuschauer, in gefühlt minutenlanger Realzeit im Fahrstuhlschacht zu den Restmüllschächten ins Endlager Morsleben hinunterfährt, hat alle Muße der Welt, darüber nachzudenken, warum dieses räumlich niemals verschwindende, zeitlich nahezu ewig strahlende Gift so tief in die Erde versenkt werden soll. Aber Katastrophen in deutschen AKWs? „Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Versagens beträgt zehn hoch minus sieben“, sagt ein Ingenieur in Grohnde, „ist also nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen“. Friedrich Zimmermann lässt grüßen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false