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Der Weg zum Rilke-Schlösschen bei Sierre im Wallis.

© Wikipedia/Nouchka CC BY-SA 3.0

Wo Engel absteigen: 100 Jahre Elegien: Auf Rainer Maria Rilkes Spuren in der Schweiz

1923 erschien das Hauptwerk des Dichters Rainer Maria Rilke: Die „Duineser Elegien“ faszinieren eine neue Generation von Leserinnen und Wissenschaftlern.

Ist es nicht viel zu schön hier, um eine gewaltige Arbeit zu schaffen, am Ende ein Jahrhundertwerk? Chateau Muzot in den Weinbergen des Wallis war der letzte Wohnsitz des Dichters Rainer Maria Rilke. Der Rastlose - „Denn Bleiben ist nirgends“ lautet einer seiner berühmten Verse - blieb bis zu seinem Tod im Winter 1926 in der Schweiz. Der Turm von Muzot aus dem 13. Jahrhundert, in dessen Garten jetzt die Feigen reifen, ist ein idyllisches Refugium, gerade weit genug entfernt von der Stadt Sierre, die doch auch nah genug ist mit ihrem Bahnhof und den Hotels.

Rilke suchte die besonderen Orte mit Akribie, am liebsten mit freier Kost und Logis, unterstützt von Gönnerinnen und Gönnern: Harmonie und starker Landschaftscharakter schienen Bedingung zu sein für das Gelingen seiner Poesie.

In Muzot hat er im Februar 1922 in einem Schreibrausch die zehn Jahre zuvor bei Triest begonnenen „Duineser Elegien“ vollendet, zehn lange Gedichte, die kaum etwas Vergleichbares finden in der modernen Literatur - neben T. S. Eliots opus magnum „The Waste Land“, das zur gleichen Zeit entstand.

Beim Treffen der Rilke-Forscher

Es herrschte 1922 in der Wirtschaftskrise Papierknappheit. Rilkes Elegien konnten erst 1923 im Insel Verlag Leipzig erscheinen. So traf sich jetzt anlässlich der „100 Jahre Duineser Elegien“ die von Torsten Hoffmann geführte Internationale Rilke-Gesellschaft in Sierre zu ihrer 40. Tagung. Sie bot in vielerlei Hinsicht Überraschendes.

Und das beginnt mit dem Tagungsort im Rathaus von Sierre. Früher war hier das Hotel Château Bellevue, wo Rilkes Gäste abstiegen; so ganz einsam war er kaum. Die Wandbilder im ehemaligen Speisesaal mit ihren Schweizer Berglandschaften sind original erhalten. Was die Ernährung betrifft, war Rilke auch recht wählerisch. Sein konsequentes Künstlertum, seine elaborierte Sensibilität, sein Weltgefühl - all das macht ihn anziehend für jüngere Akademiker und Dichterseelen des 21. Jahrhunderts, für Leserinnen und Leser.

Rilkes Dichtung erweist sich als widerständig und präsent. Das mag auch daran liegen, dass er politisch nie klar einzusortieren war, da ist er weder positiv belegt noch negativ belastet. Und mit Kurt Schwitters, Rilkes Dada-Zeitgenossen, könnte man sagen: Ewig währt am längsten ...

Festrede von Clemens J. Setz

Von dem Wiener Schriftsteller und Büchner-Preisträger Clemens J. Setz weiß man, dass er Rilke-Erlebnisse hat. Er erzählt in seiner Festrede in Sierre von einem Spaziergang in der Pandemie-Zeit, der ihn auf eine Wiese außerhalb der Stadt führte. Dort entdeckte er Artisten, die im Gras ihre Kunststücke trainierten. Setz brach damals in Tränen aus, und erst später, zu Hause, konnte er erklären, was ihm da geschah. Er hat Rilkes 5. Elegie verkörpert gesehen, draußen in der Natur, in der Zeit der Vereinsamung, im Lockdown.

Die Elegien drehen sich um die ersten und letzten Dinge, Liebe, Tod, Transzendenz, Kunst. Die 5. Elegie, zurückgehend auch auf ein Gemälde von Picasso, widmet sich dem Künstlervolk. Clemens J. Setz erinnert das Gedicht an die Bildersprache der Comics, er liest die Elegien als Essays. Und verdankt ihnen „einen kurzen Blick ins Paradies“.

Warten auf den unbekannten Schatz

Auch Sandra Richter hat der Konferenz einen kurzen Ausblick auf Rilkes Geheimnisse gegeben, aber eher irdischer Natur. Die Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach spricht in Sierre vorsichtig-diplomatisch „im Konjunktiv“. Im Dezember 2022 hat Marbach den großen Rilke-Nachlass von den Dichternachkommen erworben, der Kaufpreis soll zwischen sechs und neun Millionen Euro liegen. Ein riesiger Schatz: Die Rede ist von zig Tausend Briefen, Manuskriptblättern, von Fotos, Notizbüchern und Teilen seiner Bibliothek.

Mähne für Musen. Der Dichter als junger Mann.

© dpa/dpaweb

Doch die Veröffentlichung braucht Zeit. Das liege zum einen, sagt Richter, an der Fragilität der Papiere, zum anderen gebe es juristische Gründe. Erst im nächsten März soll die letzte Kaufrate fließen, im April dann könnten Fotografien und bald auch einige der Notizbücher Rilkes digitalisiert sein und der Forschung zur Verfügung stehen. Weitere Publikationen sind für Mai 2024 avisiert, dann soll es später auch eine große Rilke-Ausstellung in Marbach geben, alles im Hinblick auf Rilkes 150. Geburtstag im Dezember 2025 sowie den 100. Todestag im Dezember 2026.

Eine Flut von Briefen

Rilke war ein unfassbar fleißiger Briefeschreiber und dabei auch ein Trostspender. Sandra Richter kann die Ungeduldigen im Moment nur vertrösten. Man hat gespürt, wie die Germanisten auf das Manna aus Marbach warten. Sandra Richter sieht ein Potenzial für „25 Jahre Rilke-Forschung“. Und dabei hält die Familie noch Dokumente zu Rilkes überaus komplizierter Ehe mit der Bildhauerin Clara Westhoff unter Verschluss. Sandra Richter findet Claras Bedeutung als eigenständige Künstlerin unterbewertet, und da ist sie nicht allein.

Rilke für Raumfahrer?

Rilke heute? Das Thema Natur und Nachhaltigkeit geistert durch die Elegien. Alexander Honold von der Uni Basel sieht in dieser Dichtung eine „physikalische Dynamik zwischen Flüssen und Gestein“. Rilkes Engelsgestalten, die in den Elegien eine wesentliche Rrolle spielen, beschreibt er als „Botschafter eines Newton’schen Raums“. Honold hat auch gezeigt, dass man Rilke mit Humor begegnen kann. Zu lange ging es in der Rezeption arg feierlich zu. Die Duineser Elegien als „zukunftsoffene Raumfahrerkost“? Nicht schlecht.

Selbst Spezialisten finden Rilkes Hauptwerk schwierig, oft kaum verständlich. Christoph König von der Uni Osnabrück empfiehlt wortwörtliche Lektüre des „eigenen Rilke-Idioms“. Von ihm erscheinen jetzt gleich zwei Publikationen zu den Elegien im Wallstein Verlag. Der Dichter Norbert Hummelt hat tief hineingehört in Rilkes Elegiengebirge. Dort erklingt, zumal in der 7. Elegie, eine herrliche Laut-Musik. Lasst euch von den Lauten leiten, ruft Hummelt, da bekommt er viel Zustimmung.

Rosen für das Grab

Das laute Lesen der Gedichte, die Performance das gehört zum Handwerk. Es wird nur oft vergessen oder verdrängt. Rilke selbst soll ein eindrucksvoller Vortragender gewesen sein, der sich in Szene zu setzen wusste. Das Klischee vom weltabgewandten Träumer und menschenscheuen Poeten hat nie gepasst.

Es handelt sich hier um Spezialgebiete - aber auch um einen der berühmtesten poetischen Zyklen deutscher Sprache, immer wieder neu übersetzt. Besonders das Englische und das Italienische besitzen etliche Elegien-Adaptionen. Rilkes Elegien weltweit, das ist ein eigenes Forschungsfeld - wie mehr und mehr auch die Naturbezüge.

Karen Leeder (Oxford) geht den Metamorphosen der Pflanzen nach in den zehn Elegien. Auch die Tiere wohnen in diesem Kosmos, der an Alexander von Humboldt und sein berühmtes Wort „Alles ist Wechselwirkung“ denken lässt. Wieder andere Überlegungen drehen sich um den Einfluss asiatischer Religionen auf Rilke.

Sein Grab befindet sich ein paar Kilometer von Sierre entfernt auf dem Kirchhügel von Raron. Da liegt er allein auf der Südseite, abseits der gewöhnlichen Grabstätten, „ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“. Rote und gelbe Rosen zieren die Stelle. Ein allzu schöner Ort, um tot zu sein.

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