zum Hauptinhalt
Die Medien halten gewöhnlich drauf. Marie Wilkes Film geht auf Distanz.

© Zorro-Film

Der Dokumentarfilm "Aggregat": Worte und Wirklichkeit

Wie filmt man die Sprache der Politik? Marie Wilkes aufschlussreicher Dokumentarfilm „Aggregat“.

Sieben Sekunden dauern die Schwarzblenden zwischen den Episoden in Marie Wilkes Dokumentarfilm „Aggregat“. Sieben Sekunden, die ordnen, was „ein bisschen muckert“, wie am Ende der Guide durch den Deutschen Bundestag sagt, sieben Sekunden, die Raum zum Reflektieren geben, so dass die Erregung aus den Kapiteln des Films sich legen kann.

Der Begriff „Aggregat“ meint die Summe von Teilen, die nicht ohne Weiteres zusammenpassen. Im Film von Marie Wilke ("Staatsdiener") ist das die deutsche Gegenwart der Jahre 2016 und 2017, die schon jetzt überholt wirkt, weil da noch Frauke Petry Pressekonferenzen für die AfD absolviert und Tanit Koch als Chefredakteurin der „Bild“ amtiert. „Aggregat“ handelt von verschiedenen Öffentlichkeiten im aufgekratzten Deutschland – und wirkt mitunter wie ein Spin-off von Thomas Heises großem Wendefilm „Material“.

Es beginnt im Besucherzentrum des Deutschen Bundestags, mit Menschen, die hinter einem Rednerpult Posen einnehmen für Erinnerungsfotos. In 13 minutenlangen Momentaufnahmen bewegt er sich dann durch das Land, hinaus nach Sachsen, zu einem mobilen Stand des Parlaments (wo die Trägerlänge der kostenlos verteilten Beutel beklagt wird), zu Bürgergesprächen und Kreistags-Versammlungen bis an die Absperrgitter von Pegida-Aufmärschen. Zurück geht die Reise über die mediale Beschreibung von Politik: in einem ZDF-Porträt des Hallenser SPD-Abgeordneten Karamba Diaby, in den Redaktionen von „taz“ und „Bild“.

Gegenstand von Wilkes Film ist das Sprachhandeln; der Versuch, Wirklichkeit zu rationalisieren – oder was man dafür hält. Die Kamera von Alexander Gheorghiu schaut mit gewissem Abstand auf die unspektakulären Szenen. So wird deutlich, woraus Politik besteht, aus Rhetorik. Es geht darum, eine Sprache zu entwickeln, die die Lage beschreibt, die Handlungen vorausgeht, Macht erkennen lässt.

In „Aggregat“ kann man dem Denken und Meinen zuschauen, dem Akt des Formulierens. Man kann sehen, wo die Sprache Wirklichkeit nicht abbildet, sondern sie selbst entwirft. Etwa bei Frauke Petry, die ihren Auftritt vor Journalisten zum einen mit sichtlicher Genugtuung darüber bestreitet, am Kopfende des versammelten Interesses zu sitzen. Und zum anderen, AfD-typisch, eine ideologische Invektive ins Gewand scheinbar objektiver Kritik kleidet. Thema der Pressekonferenz ist ein unfertiges AfD-Papier zur Neuordnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dem die damalige Parteivorsitzende bescheinigt, er würde „richtungslos dahindümpeln“. Dann realisiert sie, dass das Wort der angeblichen Sachlichkeit ihres Vortrags abträglich sein könnte. Weil sie es vor der versammelten Presse schlecht zurücknehmen kann, tritt sie die Flucht nach vorn an: „Jetzt sag ich’s aber doch.“ So scheint an einer unscharfen Formulierung Taktik und Kalkül der AfD auf.

Die Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Politik macht der Film nicht zuletzt durch seine große Ruhe sichtbar. Wenn durch Sachsens SPD-Vorsitzenden, den stellvertretenden Ministerpräsidenten Martin Dulig, der rhetorische Rausch zuckt, dass es dem Land in den letzten 25 Jahren nie besser gegangen sei, dann wird im nächsten Moment der unausgesprochene Rest spürbar: Was das Leuten nützt, die nicht daran teilhaben.

Mit etwas Abstand sieht man besser, beweist Marie Wilkes Film

Dass Medien für die Übersetzung von Realität in Bilder nur eines von vielen Passepartouts sind, zeigt die Produktion des TV-Beitrags über Karamba Diaby, bei der der Reporter nur mit Rassismen operiert. Man schaut der Entstehung jener Bilder zu, die im Fernsehen dann als Wirklichkeitsabbildung gelten. Der Reporter bespricht mit Diaby, wo zu drehen wäre, der Politiker schlägt das Viertel um die Hallenser Pauluskirche vor, wo er wohnt. „Gehen Sie in die Kirche?“, fragt der Reporter. Als Diaby verneint, lächelt der ZDF-Mann: „Also, wir tun nur so“. Als wolle Diaby sich als jemand ausgeben, der er nicht ist.

Dabei hat der ZDF-Journalist in seinem beschränkten Blick auf den Politiker – Wie kann es sein, dass ein gebürtiger Senegalese Bundestagsabgeordneter ist? – nur nicht richtig hingehört und keine Ahnung von lokalen Gegebenheiten: Die Pauluskirche ist einfach nur Zentrum des gleichnamigen Stadtviertels. Danach „tut der Fernsehbeitrag nur so“ – und es wird routiniert weitergearbeitet. „Schnittbilder“ müssen gedreht werden, in denen Diaby auf die Kamera zu- und an ihr vorbeiläuft.

Marie Wilke erweist sich durchweg als kluge Beobachterin. „Aggregat“ führt vor, wie viel man mit Abstand erkennen und verstehen kann – wenn man einmal nicht der Faszination des Draufhaltens aus der ersten Reihe erliegt.

In Berlin in den Kinos fsk am Oranienplatz und Tilsiter-Lichtspiele

Matthias Dell

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false