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Infinity Painting. Mit ihren repetitiven Strukturen, den Punktmustern, erschuf Yayoi Kusama ihre eigene Kunstsprache. Das Bild entstand ungefähr 1961 in ihrem New Yorker Studio.

© YAYOI KUSAMA

Yayoi Kusama im Porträt: Eine Frau setzt den Punkt

Yayoi Kusama würde am liebsten die ganze Welt mit ihren Polka Dots überziehen. Ein Stück weit hat sie das schon geschafft. Ein Porträt.

Einer der Bäume vor dem Gropius Bau hatte schon Wochen vor Yayoi Kusamas Ausstellung in Berlin ein gepunktetes Kleid. Der Stamm der Platane ist mit rot-weiß getupftem Textil umhüllt. Man sieht schon von weitem, dass hier etwas Besonderes los ist. Die Umgebung wirkt prompt fröhlicher, ein Hoffnungsschimmer in unsicheren Zeiten. Mit Punkten hat die Künstlerin Yayoi Kusama Karriere gemacht. Der Punkt verhalf ihr zur Sichtbarkeit. Die einfachste Form von allen wurde zu ihrem Markenzeichen.
Kusama bedeckte einfach alles mit Punkten. Skulpturen, Kleider, Bilder, Poster, Ausstellungsräume, Installationen, die Landschaft Woodstocks, Tiere, Menschen und Pflanzen, Schaufenster von Louis Vuitton. Außerdem die ganze Stadt New York, wenn auch nur in einem Kunstfilm.

Eine Aufnahme aus den 1960er Jahren zeigt Kusama auf einem mit Punkten bemalten Pferd, wie Pippi Langstrumpf, nur viel ernsthafter. Kusama malte ihre Punkte mit der Hand, schnitt sie aus unterschiedlichen Materialien aus oder kreierte sie mithilfe von Spiegeln und Licht. Und sie brachte andere Menschen dazu, sich gegenseitig mit Punkten zu bemalen. Punkte überall. Kusama holte sich im Gegensatz zu anderen Pop-art Künstlern nicht die Gegenstände des Alltags in ihre Kunst, sie überzog stattdessen den Alltag mit Punkten und machte ihn zum immersiven Kunstwerk.

Dazu gehört ihre ganz persönliche Philosophie des Punktes. Für die japanische Künstlerin steht der Punkt für Freiheit und für die Auflösung der Trennung zwischen Individuum und Umgebung. Der Punkt symbolisiert den Bruch mit dem Raster, politische Befreiung, Sonne und Mond, Gemeinschaft, Zusammenhalt und Liebe. Im großen Stil tauchten die Punkte zum ersten Mal in Kusamas berühmter Installation „Infinity Mirror Room – Phalli’s Field“ von 1965 auf: ein verspiegelter Raum, dessen Boden mit weichen Phallussymbolen bedeckt ist, die Stoff-Skulpturen sind wiederum mit größeren und kleineren Punkten bedeckt.

Immersives Erlebnis. Yayoi Kusama inmitten ihres „Infinity Mirror Room – Phalli’s Field“, 1965 in der „Floor Show“ in der New Yorker Castellane Gallery.
Immersives Erlebnis. Yayoi Kusama inmitten ihres „Infinity Mirror Room – Phalli’s Field“, 1965 in der „Floor Show“ in der New Yorker Castellane Gallery.

© YAYOI KUSAMA, Courtesy: Ota Fine Arts, Victoria Miro & David Zwirner

Und auch jetzt, viele Jahre später, spielt der Punkt in ihrem Werk noch eine wichtige Rolle. Im zentralen, viele Meter hohen Lichthof im Gropius Bau ragen rosafarbene, aufblasbare Tentakeln aus Plastik aus dem Boden, sie füllen den hohen Raum und sind mit schwarzen Punkten bedeckt. Meistens wirken Kusamas Punkte nett und freundlich. Der liebe, unschuldige, weiche, kugelige Punkt ist ein Friedensstifter, er löst Grenzen auf. „Für das Mädchen mit den Polka Dots sind alle Polka Dots gleich; kein Polka Dot ist besser als ein anderer“, schrieb Kusama in einer Einladung anlässlich eines von ihr organisierten Happenings in den 1960er Jahren in New York.

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Manchmal haben ihre gepunkteten Objekte aber auch etwas Bedrohliches. Der weiche, weibliche Punkt wird zum dunklen Fleck, zum Loch, zum Störsignal. Marienkäfer haben Punkte, um ihren Feinden mitzuteilen, dass sie kein Nahrungsmittel sind. Wer Punkte im Gesicht hat, ist vermutlich gerade krank. Die bunten Blumen, die Kusama in diesem April in ihrer Ausstellung im Botanischen Garten in New York aufstellen ließ, als Hoffnungszeichen in frustrierenden Pandemiezeiten, ziehen mit ihren quietschigen Farben und lasziven Blütenblättern die Blicke auf sich, sie bersten vor Energie.

Mit dem irren Punktemuster wirken sie kraftvoll – aber auch aggressiv. Kusamas Kunst berührt stets beides: das Vergnügen und die Angst. Das niedliche Punktemuster legt in seiner Harmlosigkeit auch die eigene Machtlosigkeit frei. Und wird dadurch zur starken Botschaft.

Sie warnte früh vor den Exzessen der Wall Street

In verschiedenen Interviews und auch in ihrer Autobiografie „Infinity Net“ berichtet Kusama davon, dass ihr ästhetisches Universum, die unendlich sich ausbreitenden Muster, die Punkte, die Netze und die floralen Strukturen, eng mit den Halluzinationen und psychischen Störungen zusammenhängen, an denen sie seit ihrer Kindheit leidet. Als Kind erlebte sie etwa, „wie sich das Blumenmuster einer Tischdecke derart vervielfachte, dass die Blumen den ganzen Raum einnahmen und sie zu verschlingen drohten“, ist im Katalog zur Berliner Ausstellung nachzulesen.

Ein Blumenfeld samt Punktemuster ist zum Beispiel auch in ihrer Installation „With All My Love for the Tulips, I Pray Forever“ aus dem Jahr 2011 zu bestaunen. Es besteht aus großen, gepunkteten Tulpenskulpturen in einem ebenso gepunkteten Saal. Ein Seelenraum ohne Ausgang, der 2019 schon einmal im Gropius Bau ausgestellt war.

Für Kusama, die in Japan in einer wohlhabenden Familie aufwuchs, die ihr Geld im Samenhandel verdiente, haben die Polka Dots eine transformatorische Wirkung. Sie traut ihnen viel zu. Als junge Künstlerin in New York lud sie regelmäßig zu „Naked Demonstrations“ ein. Einmal veranstaltete sie ein solches Event auch an der Wall Street. Sehr lange bevor die Finanzkrise 2008 die Welt erschütterte und den Glauben ans unendliche Wachstum ins Wanken brachte.

Die alte Normalität. Zwei Kinder umarmen sich in der Installation „With All My Love For The Tulips, I Pray Forever“ von Yayoi Kusama, 2018 in Los Angeles.
Die alte Normalität. Zwei Kinder umarmen sich in der Installation „With All My Love For The Tulips, I Pray Forever“ von Yayoi Kusama, 2018 in Los Angeles.

© Jae C. Hong

Aktien seien kapitalistischer Schwachsinn und Betrug, hieß es in der Einladung zu Kusamas „Naked Demonstration“ im Oktober 1968. Aktien ermöglichten die Fortführung des Vietnamkrieges. Lieber sollten die Männer der Wallstreet Bauern und Fischer werden. „Löst die Männer der Wall Street mit Polka*dots auf“, war damals einer von Kusamas Slogans. Nackte, mit Punkten bemalte Kunstfreunde und Fans von Kusama tummelten sich im Bankenviertel New Yorks. Die Banker focht das nicht an.

Inzwischen können wohl noch viel mehr Menschen Kusamas Warnung vor den Aktienmärkten nachvollziehen. Die Gier, die Schattenseiten der globalen Wirtschaft, den Ressourcenverbrauch sehen heute nicht nur junge Fridays-for-Future-Aktivisten als Problem an. Statt Kusamas heilender Polka Dots haben wir jetzt ein Problem mit Dotcom.

Es war noch nie Kusamas Ding, ihre Punkte nur in Ausstellungsräume einzufügen. Sie nutzte den öffentlichen Raum, stellte in Clubs aus und in Schaufenstern, sie gründete eine Modemarke, eine Zeitschrift, eine Modelagentur und eine Filmfirma, sie ist die Königin der Selbstvermarktung und des Merchandisings. Ihre Punkte dürfen auf Tassen, Handtaschen und Kleidung. Höchste Zeit, dass sie auch in der virtuellen Welt wirksam werden. Wir brauchen freche Polka Dots im Cyberspace.

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