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Der 1965 in Tel Aviv geborene Schriftsteller Yishai Sarid.

© Katarina Ivanisevic/Verlag Kein & Aber

Yishai Sarids Roman "Siegerin": Töten ohne Trauma

Die Philosophie der Stärke und der ewige israelische Existenzkampf: Yishai Sarids faszinierend irritierender Roman „Siegerin“.

Das Militär gehört in Israel zum Alltag. Ob auf den Straßen des Landes, in der Jerusalemer Altstadt oder den Stränden Tel Avivs, überall sind bewaffnete Soldaten oder Soldatinnen zu sehen. Der Wehrdienst ist Pflicht für alle, ab dem 18. Lebensjahr werden Frauen wie Männer für zwei beziehungsweise drei Jahre eingezogen.

Und weil das Land in ständiger Alarmbereitschaft ist, sich im Grunde in einem dauernden Kriegszustand befindet, hinterlässt der Wehrdienst seine psychischen Spuren bei den jungen Israelis, durchaus vielfach auch pathologische.

Der 1965 in Tel Aviv geborene Schriftsteller Yishai Sarid hat in diesem Zusammenhang von einer „israelischen Tragödie“ gesprochen, nicht zuletzt weil im Extremfall das Tötenmüssen zum Wehrdienst nun einmal mit dazu gehört. Das kann man dann auch so ausdrücken, wie die Erzählerin und Hauptfigur seines neuen Romans „Siegerin“ (aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Verlag Kein & Aber, Zürich 2021. 240 S., 22 €.) bei Führungsoffizieren der israelischen Armee: „Ich bin hier, um euch und euren Soldaten zu helfen, den Feind zu besiegen, ihn zu töten und selbst am Leben zu bleiben.“

Eine psychopathische Gedankensammlerin

Abigail hat als Militärpsychologin Karriere gemacht, sie ist ein Star ihrer Zunft. Sie arbeitet nicht nur therapeutisch, sondern auch präventiv und hält immer wieder Vorträge bei der Armee.

Tatsächlich steht sie den Soldaten und Soldatinnen nicht nur zur Seite, um mit ihnen Wehrdienst- und Kriegstraumata aufzuarbeiten, sondern sie versucht schon vorher, ihre Schützlinge psychisch zu wappnen und ihnen das Töten ohne nachfolgendes Trauma beizubringen: „Das Militär hat die Aufgabe, die weichliche Mehrheit zum Töten auszubilden“, lautet ein anderer Satz von ihr.

So knallhart und eindimensional, wie es bei solchen Aussagen den Anschein hat, ist Abigail jedoch nicht. Yishai Sarid gibt seiner Ich-Erzählerin schon auch zumindest leise Zweifel und familiäres Konfliktpotential mit auf den Weg.

Zum einen ist gerade ihr Sohn eingezogen worden und hat sich bei den Fallschirmspringern verpflichtet, und natürlich sorgt sie sich um ihn, um seine psychische Robustheit.

Zum anderen fungiert ihr alter, todkranker Vater als Widerpart. Dieser ist ein Psychoanalytiker der alten Schule und wirft ihr vor, ihren Beruf verfehlt zu haben. Psychologie und Militär hält er für eine schlechte Kombination. Die Armee ist für eine Institution, die den einzelnen auslöscht. Sie sei „das Gegenteil unserer Profession“, in deren Mittelpunkt doch das Individuum stehe.

Abigail entschlüpft hin und wieder der Gedanke, dass sie womöglich „eine psychopathische Gedankensammlerin“ sei („Du brichst die Leute erst und versuchst sie dann wieder zusammenzuflicken“), was ihr etwas Menschliches verleiht.

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Trotzdem ist sie weit davon entfernt, sich und ihr Tun grundsätzlich in Frage zu stellen. Das macht sie nicht, als sie sich in eine Hubschrauberpilotin verliebt, der sie vorher die Angst vor dem Töten und vor der Härte des Militärs genommen hat. Auch nicht, als ihr Freund und ehemaliger Patient Mendi ihr gesteht, was ihn trotz aller Traumata am Töten gereizt hat.

Und das macht sie auch dann nicht, als sie selbst einen Hautausschlag bekommt, der vermutlich in ihrer Psyche seinen Ursprung hat.

Yishai Sarid, der selbst Nachrichtenoffizier bei der israelischen Armee war, bevor er im Erstberuf erst Staatsanwalt, dann Rechtsanwalt wurde, hat seine Protagonistin mit einer sachlich-nüchternen Erzählstimme ausgestattet. Im Verlauf des Romans bekommt diese etwas Stählernes, um nicht zu sagen: monströse Züge.

Denn Siegen ist das eine, der Stolz auf „die Neustrukturierung der Gefangenenübung für die Elitetruppen“ beispielsweise; das andere ist der Kitzel des Tötens, die Lust daran, die Macht über andere, was „Siegerin“ schließlich thematisiert.

Auch diese Erzählerin hat monströse Züge

Letztendlich hätte dieser Roman auch „Monster“ heißen können, so wie Sarids 2019 veröffentlichte Vorgänger. Dieser erzählt von einem Tourguide, der in Polen israelische Schüler:innengruppen durch die ehemaligen Vernichtungslager führt und sich irgendwann gleichermaßen von der Monströsität des Holocaust wie der Erinnerung daran umstellt sieht. „Wenn wir zu weich sind, haben wir keine Chance.“, sagt da einmal einer der Schüler zu dem Erzähler von „Monster“. Oder auch: „Dies ist ein Existenzkampf. Entweder wir oder die. Wir werden es nicht noch einmal geschehen lassen.“

Solche Aussagen leiten direkt zu „Siegerin“ über: Es geht um Stärke, darum, es „mit den Starken zu halten“, wie es Abigail sagt, letztendlich um das Trauma des Holocausts und so etwas nie wieder zuzulassen. Doch die andere Seite dieses Vorsatzes, der militärischen Stärke, das sind die psychischen Verheerungen, die Sarid in seinem Roman an einigen der von Abigail therapierten Nebenfiguren ausbuchstabiert, nicht zuletzt an ihrem Sohn, der bei einem Einsatz in den besetzten Gebieten schwer traumatisiert wird.

Obwohl der Konflikt mit den Palästinensern in diesem Roman keine direkte Rolle spielt, schwingt er mit, so wie der Holocaust auch. Denn die israelische Tragödie hat enorm viele Facetten, und Sarid versteht es nach seinem Politthriller „Limassol“ und dem Tel-Aviv-Roman „Naomis Kindergarten“, diese vielen Facetten in seinem Roman genauso wie in „Monster“ kühl zu analysieren und faszinierend aufzufächern. Die Philosophie der Stärke ist eine ambivalente und beschert viele Opfer, nicht allein auf Seiten der palästinensischen Bevölkerung. Dass Abigail auch am Ende auf der Siegerinnenseite bleibt, hinterlässt ein mehr als mulmiges Gefühl.

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