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Yuriy Gurzhy (links) mit seiner Band Rotfront.

© Promo

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (156): Was soll ich mit den alten Liedern machen?

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Während wir gerade in der Schlange an der Kasse bei Rewe standen, erzählte ich einem Bekannten, dass ich vor wenigen Stunden aus Italien zurückgekehrt war. Er hat es dieses Jahr noch nicht geschafft, mit seiner Familie in den Urlaub zu fahren und war neidisch. Da musste ich ihn beruhigen – meine Reise nach Italien dauerte nur zwei Tage, und alles, was ich in dieser Zeit gesehen habe, war der Flughafen, die Autobahn, mein Hotelzimmer und der Auftrittsort.

Meine Band RotFront hat in der Toskana ein Konzert gespielt, das zweite von drei in diesem Jahr. In letzter Zeit fällt es mir enorm schwer, mein Publikum zu unterhalten, es zum Tanzen zu bringen – also genau das, was jahrelang meine Hauptspezialität war. Auf die meisten Fragen, die ich mir in den vergangenen Monaten immer wieder stelle, habe ich nach wie vor keine Antworten.

RotFront verkörperte schon immer Völkerfreundschaft, und zwar auf eine ganz natürliche, nicht plakative Weise. Schließlich bestand die Band schon an ihrem Gründungstag aus einem Ukrainer, einem Ungarn und einem Deutschen. Von Anfang an waren wir daran interessiert, welches bunte Puzzle sich aus diesen verschiedenen Elementen zusammensetzen lässt.

Ich schrieb meine Songs auf Englisch, Russisch und Ukrainisch, Simon sang auf Ungarisch, unser deutscher Rapper rappte auf Deutsch. Bald schlossen sich eine Akkordeonistin aus Belarus, ein russischer Klarinettist und zwei ukrainische Sängerinnen der Band an. Unsere bunte Truppe mit starkem Migrationshintergrund machte typische Berliner Musik, behauptete man – und unser Publikum war ebenso international wie unsere Bandbesetzung.

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In meiner Heimatstadt Charkiw bin ich mit der russischen Sprache aufgewachsen, meine Eltern sprachen es, ebenso wie ihre Eltern. Es war also ganz natürlich für mich, auf dieser Sprache zu singen, doch inzwischen möchte ich es nicht mehr tun. Mit dem Aggressor will ich so wenig Gemeinsamkeiten wie nur möglich haben. Ich kann keine russische Musik mehr hören und habe auch kein Interesse mehr daran, Werke von Autoren aus russland zu lesen. Ihre Texte haben für mich jegliche Anziehungskraft verloren.

Als meine Familie 1995 nach Deutschland zog, war ich zuerst verwirrt über die Annahme „Woher kommst du? Aus der Ukraine? Also bist du russe!“ Ich sprach kaum Deutsch und hatte damals Schwierigkeiten, den Unterschied zu erklären. Mit der Zeit konnte ich es, und habe es getan, bis ich müde wurde, weil ich das Gefühl hatte, mich zu oft wiederholt zu haben. Vielen von meinen Kumpels ging es ähnlich. Deutsche aus Kasachstan und Usbekistan, Juden aus Lettland, Moldova und der Ukraine – auch wenn wir miteinander russisch gesprochen haben, war keiner von uns russe.

Man sollte nicht so tun, als seien bestimmte Dinge nie geschehen

Der Beginn des Großen Krieges führte unter anderem dazu, dass einige ukrainische Musiker*innen, die früher auf russisch gesungen haben, ihre Liedtexte ins Ukrainische übersetzten. Ich persönlich habe damit Schwierigkeiten, da ich der Meinung bin, dass Lieder wie Momentaufnahmen sind und wenn sie so geschrieben wurden, sollten sie auch so gesungen werden.

Ein Musikalbum gleicht einem Fotoalbum, mit der Zeit erinnern wir uns nicht nur an die Songs, sondern auch an die eigenen Erlebnisse, bei denen sie möglicherweise im Hintergrund liefen. Wir entwickeln uns im Laufe der Zeit weiter, aber die Bilder und die Lieder bleiben unverändert. So waren wir damals – vielleicht erscheinen die Frisur und das Hemd aus heutiger Perspektive albern, aber das war eben unsere Art. Heute sind wir anders.

Menschen aus Fotos zu retuschieren, war eine verbreitete Praxis in der Stalin-Ära. Diejenigen, die zu Feinden des Volkes erklärt wurden, wurden von den Bildern entfernt, als ob sie nie existiert hätten. Sollte man diese Methode auch bei eigenen Songs anwenden? Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher.

Es wäre falsch, so zu tun, als ob bestimmte Dinge in der Vergangenheit nie passiert wären. Bedeutet das also, dass man das Lied lieber gar nicht mehr singen sollte? Es wäre so, als würde man das Foto aus dem Familienalbum herausnehmen, statt ein peinliches Element zu überstreichen. Und das hört sich auch nicht viel besser an.

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