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Majk Johansen

© wikipedia.pl/Oleandr

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (79): Was Majk Johansen wohl noch geschrieben hätte?

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

In den letzten Wochen muss ich oft an meine Ukrainebesuche der letzten zwei Jahre denken, wahrscheinlich weil die in dieser Zeit entwickelten Projekte – „New Donbass Symphony“ und „Fokstroty“ – neulich ihre deutschen Premieren hatten.

Vor wenigen Tagen war der Geburtstag von Majk Johansen (1896-1937), dem ukrainischen Schriftsteller, Dichter, Journalist und Dramatiker mit dem verdächtig nicht-ukrainischen Namen (angeblich war er deutsch-ukrainischer Abstammung). Wie die anderen zur Crème de la Crème der neuen ukrainischen Literatur gehörenden Autoren, lebte auch er im Schriftstellerhaus Slowo in Charkiw, wo 2019 eine Literaturresidenz eröffnet wurde.

Pünktlich zu Johansens 127. Geburtstag erscheint in Großbritannien sein experimenteller Roman „Die Reise des Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Liebhaberin, der schönen Alcesta, in die Sloboshanische Schweiz“ von 1930. Über die Qualität der englischen Übersetzung kann man noch nicht urteilen, der Buchumschlag sieht auf jeden Fall wunderschön aus, stelle ich fest, als ich die Ankündigung im Netz sehe. Ich teile sie als Instagram Story.

Die erste Reaktion kommt prompt: Eine meiner Followerinnen schreibt, sie hatte erst vor kurzem erfolglos nach deutschen Ausgaben von Johansens Werken gesucht, also freut sie sich sehr auf die britische Veröffentlichung.

Als ich im Frühling 2021 in Charkiw eintraf und in der zweiten Residenz des Literaturmuseums eingecheckt hatte, wurde ich sofort zu einem Vortrag von Yaryna Tsymbal eingeladen, der am selben Abend im Slowo Haus stattfinden sollte. Ich kannte sie nicht, auch der Name des Schriftstellers Juri Smolytsch, von dem sie erzählen sollte, kam mir unbekannt vor. Weil ich in der Nacht davor nicht schlafen konnte, wäre ich am liebsten direkt ins Bett gegangen. Doch gleich am ersten Tag die Einladung der netten Gastgeber abzulehnen, kam nicht in Frage.

Der Vortrag dauerte drei Stunden, ich bin aber nicht eingeschlafen – im Gegenteil, ich vergaß meine Müdigkeit und verfolgte die Erzählung mit angehaltenem Atem, denn Yaryna ist nicht nur eine Literaturwissenschaftlerin, sie ist auch eine begabte Geschichtenerzählerin, die von den ukrainischen Schriftstellern der 1920er so berichtet, dass ihr Publikum fast glaubt, sie wäre dabei gewesen und hätte alles mit eigenen Augen gesehen. Wenn sie von den Bewohnern des Slowo Hauses redet, hört es sich so an, als ob sie von eigenen Nachbarn sprechen würde. Sie weiß genau, wer in welcher Wohnung gelebt hat, wer mit wem befreundet war, wer wen nicht leiden konnte.

Bei meiner nächsten Charkiwreise durfte ich ein paar Tage in dieser Wohnung verbringen. An den Wänden im Flur sah ich zwei große Fotos von Majk Johansen (von Yaryna gefunden und ausgedruckt, wie sie mir später verraten hat), auf einem davon posierte er nackt, und sein durchtrainierter Körper hätte jedem Athleten Ehre gemacht. Unter den Büchern, die sich auf meinem Arbeitstisch stapelten, waren auch seine. Ich überlegte, fürs „Fokstroty“-Album seine Gedichte zu vertonen.

Inzwischen dürfen sie in keiner Anthologie der ukrainischen Poesie des 20. Jahrhunderts fehlen, neben den Texten von Geo Schkurupij und Mychajl Semenko. Und trotzdem fällt es mir schwer, sie alle als „Klassiker“ zu bezeichnen – dafür sind ihre Schriften viel zu frech und lebendig, viel zu Punk.

Ich hätte so gern gesehen, wie ihre Talente sich entwickelt hätten, was sie noch alles hätten schreiben könnten. Das ist jedoch leider unmöglich, denn keiner von den drei überlebte die 1930er, genauso wie die Mehrheit der im Slowo Haus wohnenden Autoren, die zu Opfern von Stalins Repressionen wurden. Die hingerichtete Renaissance – die offene Wunde der ukrainischen Kulturgeschichte.

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