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Alex (Mitte), Boris (rechts) und ein Freund (links)

© Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (83): Im Mauerpark „Creep“ singen für die Ukraine

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

10. - 13.11.2022
Nach dem Auftritt im Europarat in Straßburg gehen wir mit den Kollegen essen. Es ist unser letzter Abend zusammen, dann reisen wir alle in verschiedene Richtungen ab – Katya Tasheva und ich zurück nach Deutschland, Sergiy Fomenko fliegt nach New York und DJ Derbastler steigt am nächsten Morgen in den Bus Richtung Kiew – wer weiß, wann Bandura Sound System wieder auftreten darf?

Ich möchte früher gehen und verabschiede mich. Wir umarmen uns vorm Cafe und wünschen einander eine gute Reise, als wir „Slawa Ukraini!“ hören. „Herojam Slava!“, antworten wir und sehen hinter uns ein lächelndes Paar, das sich freut, mitten in Straßburg Ukrainisch gehört zu haben. Wir kommen ins Gespräch. Während seine Begleiterin kaum etwas sagt, ist der im Rollstuhl sitzende junge Ukrainer sehr gesprächig. Wir erfahren, dass er aus Tschuhujiw kommt, das Bein bei Kämpfen unweit von Charkiw verloren hat und was den Soldaten der Ukrainischen Streitkräfte an vorderster Front fehlt. 

Am frühen Morgen, als ich versuche, im Zug einzuschlafen, weckt mich eine WhatsApp-Nachricht von meinem Sohn. Sein Plan, am Sonntag mit Freunden im Mauerpark zu singen und Spenden für die Ukraine zu sammeln, wird immer konkreter. Nun möchte er wissen, ob ich bereit wäre, die Aktion mit Mikros und Boxen zu unterstützen. Ich verspreche mich umzuhören, da ich selbst leider keine habe. Eine viertel Stunde später hat es sich bereits erledigt. Boris schreibt, Alex habe die Technik und bringe alles mit. Toll, solche Freunde zu haben.

Mischa aus Moskau ist auch da, er lebt seit 2016 in Berlin

Aber wer ist dieser Alex, sind wir uns schon mal begegnet, ist er auch ein Musiker, frage ich. „Aber Papa, das ist doch die Sascha, unsere Sascha!“ Wow! Haben Sascha und Boris nicht noch vorgestern im Sandkasten am Arnimplatz gespielt? So fühlt es sich für mich an. Aber: Wenn Boris schon 18 ist, sollte Sascha mindestens 17 sein!

Am frühen Sonntagmittag bauen die beiden im Mauerpark auf. Boris packt die Gitarren aus, Alex schließt alles an. Ihre Stimme erinnert mich an Courtney Love oder Amy Winehouse, während Boris, der sich erkältet hat, heute eher wie Tom Waits klingt. Ich habe zwei Thermoskannen Ingwertee und ein paar Mandarinen mitgebracht sowie einige Kabel, ein Stimmgerät und eine ukrainische Fahne, die sonst auf meinem Balkon hängt.

„Und Du, bist Du etwa Musiker?“, fragt mich Mischa, ein junger gesellige Riese, der irgendwie dazugehört, aber gerade nichts zu tun hat. „Sowas in der Art“, antworte ich und freue mich heimlich, dass er mich duzt. Ich versuche, unauffällig zu bleiben: weniger Papa, mehr ein älterer Kollege. Ich frage Mischa, wo er herkommt. „Aus Moskau“, sagt er, „ich wohne aber seit 2016 in Deutschland“. Ach so, das erklärt die weißblaue Fahne, die er in der Hand hält, die Flagge des neuen, alternativen russlands, die ich schon bei manchen Demos gesehen habe.

Als die Kids endlich loslegen, gehe ich zur Seite, mache ein paar Bilder und gebe mich als enthusiastischer Fan. Es kommen mehr und mehr Freunde, manche haben Gitarren mit. Einige von diesen Liedern habe ich mit 18 auch gesungen – „Creep“ von Radiohead oder „What's Up“ von 4 Non Blondes. Es fällt mir jedoch auf, wie anders manche so vertraute Zeile heute klingt, zum Beispiel „Soldat“, die pazifistische Hymne aus den frühen 2000ern von dem Charkiwer Duo 5Nizza.

Mischa performt sein eigenes Stück. „Ich habe Tinder installiert, nur um Dich kennenzulerneeen“, singt er . Dabei ist er selbstsicher und ziemlich laut, was uns noch zwei, drei Euro an Spenden bringt. Danke dafür. Dann singt Veronika „Ich hab kein Zuhause mehr“ von der ukrainischen Band Odin v Kanoe.

Sie stammt wie ich aus Charkiw – ich muss an ihre Mutter Aliona denken, die ich vor fünf Jahren im ArtArea kennenlernte, einem von ihr geleiteten Club im Zentrum Charkiws. Wenn alles gut läuft, trete ich dort in drei Wochen wieder auf. Ich schicke Aliona ein Bild von unseren Kindern, die im Mauerpark Leonard Cohens „Halleluja“ singen. Die ukrainische Fahne weht im Wind, und die Sonne geht unter.

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