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Weihnachtsspecial beim TV-Sender Rossija 1.

© Telekanal Rossija 1/Screenshot

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (98): Zombie-Silvester im russischen Staatsfernsehen

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

2..1.2023
Was für einen verrückten Traum hatte ich gestern! Ich träumte, dass bei mir Yegor Letow übernachtet hat – und ich wunderte mich darüber gar nicht. Ich überlegte nur, rechtzeitig Handtücher rauszuholen, vielleicht den Staub abzuwischen, wobei der ultimativen russischen Punklegende Letow der Staub doch scheißegal sein sollte! 

Es klingelte, mein Gast kam rein, er hat sich kaum verändert – lange Haare, Hornbrille, Bart … In Wirklichkeit habe ich Letow 2003 gesehen, als Wladimir Kaminer und ich seinen ersten Auftritt in Berlin organisierten. Ich war aufgeregt, schließlich gehörten viele Songs von Letow zum Soundtrack meiner wilden Jugend in der Ukraine.

Sein ganzes Leben lang blieb Letow ein Provokateur – zu den Sowjetzeiten war er ein ausgesprochener Gegner des Regimes, nach der Wende überraschte er mit dem Eintritt in die National-Bolschewistische Partei, mit Coverversionen sowjetischer Schlager und Liedern über Lenin. 

In meinem Traum ging er sofort aufs Zimmer – und erst dann fiel mir ein, dass Yegor eigentlich schon vor 14 Jahren gestorben ist. Ich hätte gern gewusst, ob er erst neulich auferstanden ist, und wenn ja, was er zum Krieg in der Ukraine sagen würde. Denn viele russische Rock-Rebellen von gestern sind heute Putins Fans und Befürworter des Krieges. Wie reagiert er, wenn er auf dem Balkon zufällig meine gelb-blaue Fahne entdecken würde? Aber über Nacht blieb es still. Beim Frühstück werden wir alles klären, dachte ich, bis ich Yegor in der Küche fand, er saß auf dem Stuhl mit einer Tasse Tee in der Hand, ohne Bewegung, und war wie eingefroren. 

Verwirrt wachte ich auf, nicht sicher, worauf die Vorsehung mit einem solchem Traum hindeuten sollte. Ich folgte dem Impuls und suchte auf Facebook das Profil von Letows Bruder. Sergej Letow ist ein Free-Jazz-Saxofonist, der seit den 1970ern schräge experimentelle Musik macht. Irgendwann hat er tatsächlich bei mir übernachtet, an jenem Abend hatten wir ein tolles Gespräch über Musik und Kino. Ein Interview von 2017, bei dem er über ukrainische Nazis erzählte und die Okkupation der Krim und des Donbass begrüßte, hat mich sehr enttäuscht.

In seinem neuesten Post sind Bilder vom Neujahrs-Special des staatlichen russischen Fernsehsenders NTW zu sehen. Seltsam, denke ich, eigentlich galt er früher als ein kompromissloser Avantgardist, was macht er da? Neugierig suche ich das Video auf YouTube. 

Weihnachtsmannmützen, Glitzerkleider und Konfetti

Der gut gelaunte Moderator kündigt Bands an und macht Scherze. Zu seinen Gästen gehören unter anderem Saxofonist und Mitglied der Partei „Einiges Russland“ Igor Butman, der 2014 offenen Brief an Putin unterzeichnete, um seine Unterstützung der Krim-Annexion zu äußern, sowie die junge Band Shaman, die 2022 einen Hit mit dem Song „Ich bin Russe“ („Ich hab Glück, denn ich bin Russe – der ganzen Welt zum Trotz“) landete.

Bevor Shaman ihren Gassenhauer zum Besten geben, betritt Sergej Letow die Bühne, um „Äpfel im Schnee“, einen peinlichen Pop-Hit aus den Achtzigern, zu performen. Weihnachtsmannmützen, Glitzerkleider und Konfetti – die Stimmung im Publikum ist festlich, das Thema Krieg wird komplett ignoriert. 

Die Unnatürlichkeit der Sendung ist unerträglich, ich mache das Video aus, aber der YouTube-Algorithmus bietet mir schon das nächste an, das Neujahrs-Special vom Telekanal Rossija 1. Die Versuchung ist zu groß, ich schalte ein. Vor drei Minuten noch dachte ich, schlimmer geht’s nicht – ich habe mich geirrt.

Hier hat man das Gefühl, etwas aus den späten Siebzigern zu schauen – die gleichen Songs, die bekannten Gesichter, zum Beispiel die 93-jährige Komponistin Alexandra Pakhmutova oder die Moderatoren, die ich noch aus meiner Kindheit kenne.

Neu sind Militärangehörige im Publikum, die an Banketttischen sitzen und alle 20 Minuten zu Wort kommen. In ihren Ansprachen erwähnen sie erstaunlicherweise weder die Ukraine noch den Krieg, geredet wird von den Aufgaben, die die russische Armee erfolgreich im Süden des Landes erledigt. Eine schlecht inszenierte Freak-Parade, Triumph des Fakes – für eine Nation im lethargischen Schlaf, die nur von der Rückkehr in die Vergangenheit träumt. 

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