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Beten schadet nie. Hindus im indischen Ahmedabad gedenken der Verstorbenen. Mit dem Mahalaya-Tag endete zum Neumond am 8. Oktober das Pitri-Paksha-Fest.

© Amit Dave/Reuters

Yuval Noah Hararis neues Buch: Homo nutzlos

Plädoyer für einen neuen Universalismus: Yuval Noah Harari erteilt „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“.

Wegen des außerordentlichen Erfolges gibt es jetzt also ein Zusatzkonzert. So könnte man etwas missgünstig vermuten, wenn nun, überraschend schnell nach dem Bestseller „Homo Deus“, schon das nächste Buch des israelischen Universaldenkers Yuval Noah Harari in den Handel kommt, und zwar gleichzeitig in 50 Ländern. Auch der Titel stimmt etwas misstrauisch: Er geht hararimäßig ums große Ganze („für das 21. Jahrhundert“), deutet aber doch einen eher kleinteiligen Entstehungsprozess an („21 Lektionen“). Offenbar hat der Autor aus Zeitungsbeiträgen, Vorträgen oder Essays rasch ein weiteres Werk zusammengebastelt.

Bei der Lektüre zeigt sich aber bald: Was bei Harari vom Tisch fällt, ist immer noch interessanter als vieles, was bei anderen auf demselben serviert wird. Harari ist ein Virtuose des Kontexts. Bei ihm bekommen die erschöpftesten Reizthemen einen neuen, kühnen Dreh. Im Kapitel „Postfaktisch“ etwa vermeidet er die landläufigen Klagen über den populistischen Umgang mit der Wahrheit, sondern stellt erst einmal fest, dass nicht erst mit Putin und Trump das Zeitalter des Postfaktischen begonnen habe. Schon die Bibel und der Koran hätten postfaktische „Wahrheiten“ etabliert. Mehr noch: „Homo Sapiens ist eine postfaktische Spezies, deren Macht davon abhängt, Fiktionen zu schaffen und daran zu glauben.“ Etwa daran, dass Stückchen bedruckten Papiers einen Wert darstellen, mit dem sich Güter bezahlen lassen; eine extrem erfolgreiche Fiktion. Dann gibt Harari aber doch den Rat, denen zu misstrauen, die uns versprechen, die Komplexität der Welt durch ihre Fiktionen allzu stark zu reduzieren.

Auch wenn er sich in diesem Buch Gegenwartsproblemen widmet, besteht der Reiz seiner Ausführungen darin, dass er aktuelle Themen in weite Perspektiven bringt. Wie in „Homo Deus“ werden das „Ich“ und der Individualismus, die „Seele“ und der freie Wille verabschiedet im Zeichen eines fröhlichen Biologismus: humanistische Größen, die sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Gehirnprozesse nicht mehr vereinbaren ließen.

Algorithmen entscheiden im Zeitalter des Dataismus

Entscheidungen werden uns im aufziehenden Zeitalter des Dataismus abgenommen von den Algorithmen, die bald besser als wir selbst wissen, was wir „wollen“ und was gut für uns ist. Die biometrische Totalerfassung des Menschen mag Vorzüge haben; sie gibt repressiven Staaten künftig aber auch ungeahnte Möglichkeiten der Überwachung in die Hand. Man muss gar nicht erst verbotene Gedanken aussprechen, um ins Straflager zu kommen; es reicht, wenn die Sensoren beim Anblick eines Porträts des Diktators gesteigerten Blutdruck und andere verräterische Anzeichen messen.

Harari skizziert die Zukunft des Dataismus mit ihren besorgniserregenden Folgen für die elementaren Konzepte der „Arbeit“, „Freiheit“ und „Gleichheit“. Durch Biotechnologie und künstliche Intelligenz würden schroffe neue Klassengegensätze entstehen. Die Menschheit der Zukunft werde sich spalten in den Homo Deus und den Homo nutzlos. Hier die rundum optimierten, sich ihrer Langlebigkeit erfreuenden Superreichen, die über die technische Entwicklung verfügen – dort die Mehrheit der Überflüssigen, die vielleicht aus bloßer Menschenfreundlichkeit noch mit Nahrung, Drogen und Spielen versorgt werden.

Bevor aber der Mensch zum Gott wird, hat erst einmal der religiöse Fundamentalismus Konjunktur. Der säkulare Freigeist Harari sieht ihn mit erstaunlicher Gelassenheit. Denn wenn man den Blick etwas weiter einstellt, wird deutlich, dass sich der Zuständigkeitsbereich der Religionen seit Jahrhunderten ständig verkleinert; es ist ein Rückzug ohnegleichen. Im Kapitel „Gott“ führt Harari aus, wie die Religion in vormodernen Zeiten alle Bereiche des Lebens durchdrang, von der Landwirtschaft bis zur Medizin, vom Verständnis des Universums und der Erklärung von Unwettern bis zur Naturgeschichte.

Auch Strenggläubige setzen inzwischen auf den Sachverstand von Ärzten

In all diesen Bereichen sei sie unwiderruflich irrelevant geworden. Heute würden auch die meisten Strenggläubigen ihr krankes Kind dem Sachverstand von Ärzten überlassen und nicht auf priesterliche Rituale setzen; beten kann man ja trotzdem. Insofern sind auch die heutigen Fundamentalisten unweigerlich Bewohner der Moderne, und sie verhalten sich den größten Teil des Tages auch so.

Immer wieder schafft es Harari, ungewohnte Zusammenhänge herzustellen und weite Hintergründe aufzureißen. Etwa wenn er (der vor seinem Welterfolg mit „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ als Militärhistoriker geforscht hat) darstellt, wie gravierend sich unsere Einstellung zum Krieg verändert hat. Für die Eliten vor dem Ersten Weltkrieg war noch ausgemacht, dass erfolgreich geführte Kriege zu Macht und Wohlstand führen. So lehrte es die Erfahrung der Jahrhunderte.

Das Deutsche Reich etwa gründete in den „Einigungskriegen“ von 1870/71, die Vereinigten Staaten gewannen durch den Krieg gegen Mexiko gigantische Landmassen einschließlich Kaliforniens und „Großbritannien schuf durch eine ganze Reihe famoser kleiner Kriege überall auf dem Planeten das größte und wohlhabendste Weltreich“. Wenn wir heute aber alle mehr oder weniger Pazifisten sind, dann ebenfalls aus gutem Grund, denn erfolgreiche Kriege gehören inzwischen zu den „gefährdeten Arten“. Harari erklärt, warum.

Im Kapitel über „Migration“ erläutert er, warum der Kampfbegriff des „Rassismus“ unbrauchbar sei: weil selbst radikale Gegner der Zuwanderung ihre Ablehnung heute nicht mehr mit biologistischen Konzepten wie „Blut“ oder „Genen“ begründen, sondern mit kulturellen Eigenheiten, die grundsätzlich veränderbar sind, was der entscheidende Unterschied zum Rassismus ist. Dass alle Kulturen gleichwertig seien, hält Harari im Übrigen für eine Illusion: „Leider bestehen solche wohlmeinenden Haltungen den Wirklichkeitstest nicht. Menschliche Vielfalt mag wunderbar sein, wenn es ums Kochen und um Poesie geht, aber kaum jemand würde die Hexenverbrennungen, den Kindsmord oder die Sklaverei als faszinierende menschliche Eigenheiten betrachten.“ Es gebe nur eine Zivilisation, und deren Maßstäbe seien weltweit gültig.

Die Empfehlung: eine Strategie der Gelassenheit

Im Kapitel „Terrorismus“ empfiehlt der israelische Autor konsequente Gelassenheit als Strategie. Alle Menschen, die seit 1945 in Europa durch Terroranschläge ums Leben kamen, ergäben zusammen kaum die Zahl der Toten, die eine kleinere, vergessene Schlacht des Ersten Weltkriegs forderte. Die Opfer im Straßenverkehr oder des Zuckerkonsums sind um ein Vielfaches höher – und trotzdem bricht uns nicht der Angstschweiß aus, wenn wir im Supermarkt vor dem Regal mit den Süßigkeiten stehen.

Terroristen gleichen Fliegen, die einen Porzellanladen zertrümmern wollen. Sie haben nur eine Möglichkeit: sich ins Ohr eines Stiers zu setzen und zu summen, bis der Stier wütend wird. Sich wie ein rasender Bulle zu verhalten, wie es die Amerikaner nach dem 11. September getan hätten – davon rät Harari entschieden ab. Und empfiehlt auch den Medien Zurückhaltung. Denn Terroristen denken nicht wie Militärs, sondern wie Theaterregisseure. Die wichtigsten Partner in ihren Inszenierungen sind die Medien.

Ohne allzu sehr zu simplifizieren, verhandelt Harari gewichtige Themen im Plauderton. Nebenbei spricht er auch von seiner Homosexualität und seiner unverzichtbaren Gewohnheit, zwei Stunden täglich zu meditieren. Diese „21 Lektionen“ bringen das skeptisch-aufgeklärte Denken auf die Höhe der Zeit. Auch wenn sie sich diesmal nicht zum großen Wurf fügen, bieten sie ein geistreiches Lesevergnügen.

Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck Verlag, München 2018. 445 Seiten, 24,95 €

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