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Kultur: Zahnlose Schönheit

Daniel Odijas Ortsbegehung „Auf offener Straße“.

Im Dunkeln sieht die Straße aus, als fehlten ihr ein paar Zähne“, heißt es über die Ulica Dluga, die „lange Straße“. Dabei ist die Magistrale einer namenlosen Kleinstadt in der Nähe von Danzig in Wahrheit eher kurz. Diese Übertreibung entspricht den Illusionen, die sich ein Teil ihrer Anwohner machen, jene die noch aufbrechen wollen, nach Amerika oder zumindest über die deutsche Grenze zu „patriotischen Diebeszügen“. Die Älteren wie Globus, Cegielska und Chajkowska begnügen sich längst damit, tagein, tagaus ihre Kissen im Fenster mit den Ellenbogen platt zu drücken. Wieder andere genießen die „mörderische Schönheit des Feuers“ oder schlafen ihr Delirium am Wasser aus. Ihre Emotionen pendeln zwischen „draufhauen“ und „in Ruhe lassen“.

Als der damalige Fernsehjournalist Daniel Odija 2001 mit „Ulica“ sein Romandebüt vorlegte, schockierte dessen drastischer, antiklerikaler Realismus große Teile der polnischen Öffentlichkeit. An Bohumil Hrabal und Thomas Bernhard geschult, setzt der mittlerweile 39-Jährige aus Slupsk (Stolp) gegen Pathos und Emphase genaue Beobachtungen in kurzen, präzisen Sätzen.

Der Umgang mit der Zeit und dem Vergehen ist Odijas großes Thema, die Spuren und emotionalen Verheerungen der kapitalistischen Umwandlung in den kleinen, oft vergessenen Ortschaften. Originalität sei nicht sein Ziel, betont er dabei ohne Koketterie, und dass seine Bücher immer trauriger würden.

Nach der düsteren biblischen Kontrafaktur „Das Sägewerk“ (2006) lernen die deutschen Leser nun erst jetzt Odijas Debüt kennen, wiederum in Martin Pollacks hervorragender Übersetzung. Die Milieuschilderungen sind in beiden Büchern ähnlich drastisch, nur dass es sich in „Auf offener Straße“ um Momentaufnahmen in der Art filmischer Short Cuts handelt. Am Ende stehen mehrere tragikomische Todesfälle, die „Dluga“ erscheint als metaphysischer Übergang zwischen Geburt und Tod. Zur Zeit arbeitet Odija, der am Dienstag, den 19. März, um 19 Uhr in der Berliner Buchhandlung Buchbund aus seinem Buch lesen wird, an einer „Chronik der Verstorbenen“, in der es um die deutsche Vergangenheit der pommerschen Wojwodschaften gehen wird. Hoffentlich ist diese Chronik dann auch bald hierzulande zu lesen. Katrin Hillgruber

Daniel Odija: Auf offener Straße.

Roman. Aus dem

Polnischen von

Martin Pollack.

Zsolnay Verlag,

Wien 2012.

141 Seiten, 14,90 €.

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