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Bittersüße Vergeblichkeit. Die Schriftstellerin Zeruya Shalev.

© Eric Sultan/Berlin Verlag

Zeruya Shalev: Das Morgen im Gestern

Neuer Roman der israelischen Erfolgsautorin Zeruya Shalev: "Für den Rest des Lebens" erzählt von ewig unerfüllten Träumen.

Das Spiel mit den ungelebten Lebensmöglichkeiten hat in der Literatur schon viele Spuren hinterlassen. Im Alltag bleibt es bei der Was-wäre-gewesen-wenn-Frage. Ihr wiederkehrendes Motiv heißt Versäumnis, und sein Stachel ist die nicht wiederholbare Zeit. „Ach Gideon“, lässt die israelische Autorin Zeruya Shalev ihre Protagonistin Dina seufzen, „wenn wir noch einmal von vorn anfangen könnten, würde ich alles anders machen.“

Wären die Gleise „Für den Rest des Lebens“, wie Shalevs neuer Roman heißt, anders gelegt worden, hätte Dina an den Tagen ihr Dissertations-„Baby“ austragen und in den Nächten ein neues, ersehntes Kind empfangen können? Hätte ihr Bruder Avner die Liebe gefunden, die er vermisst? Und hätte er seine Verantwortung als Sohn gegenüber der Familie übernommen, statt sie als Rechtsanwalt nur gegenüber den Bedrängten seines Landes, den Beduinen und Palästinensern, zu empfinden?

Familienaufstellung könnte man nennen, was Zeruya Shalev rund um das Sterbebett der dahindämmernden Chemda Horowitz inszeniert. Es ist die Suchbewegung einer „nie reif gewordenen Familie“, deren Geschicke mit dem Schicksal des Staates Israel eng verknüpft sind. Vorenthaltene Liebe, Angst vor Verlust und Sehnsucht bilden die Erregungszentren dieser Kränkungsgeschichten, für die „das erste Wort“ in Chemdas leerem Heft erst noch gefunden werden muss.

Chemda fantasiert im Zustand fortschreitender Demenz von ihrer Kindheit am Chulasee, dessen Trockenlegung zum Sinnbild der elterlichen Liebe wird. Der Vater, überzeugt vom neu gegründeten Staat, will, dass die Tochter im Kibbuz „nach ihren Fähigkeiten“ leben kann. Doch die Anpassung misslingt bereits, indem sich Chemda weigert, laufen zu lernen. Überall kommt sie zu spät, wird den Anforderungen nicht gerecht. Noch auf dem Sterbebett ringt sie mit dem übermächtigen Vater und dem Ehemann Eilik, der aus der Totenwelt Europas gekommen ist, ohne Worte und schon „in der Blüte vertrocknet“.

Der Fluch unausgewogener Liebe geht auf die nächste Generation über, auf die von Chemda abgewiesene Tochter Dina und den von ihr umso leidenschaftlicher geliebten Avner. Während Dina, die das Zwillingskind ihrer einzigen Tochter Nizan noch vor der Geburt verloren hat, Erlösung von einem kleinen Sohn erhofft und sich die Suche nach ihm zur Besessenheit auswächst, projiziert Avner seine Sehnsucht nach außen. Er sucht nach einer Frau, die die Liebe einlöst, nach der er sich sehnt, und entfernt sich von seiner Frau Shlomit, mit der er in einem ähnlichen Stellungskrieg lebt wie Israel mit seinen Nachbarn. Wie Gideon, Dinas Ehemann, der sich gegen die Adoption eines Kindes stellt und den Fortbestand der Ehe davon abhängig macht, nimmt auch Avner eine distanzierte Position zum Leben ein: Gideon versteckt sich hinter der Linse seiner Kamera und „hofft morgen zu finden, was er heute nicht gefunden hat“, Avner schiebt das Recht zwischen sich und die Realität.

Diese Spiegelungsverhältnisse werden auf Nebenschauplätzen aufgenommen: Die von Avner gesuchte Frau ist keineswegs glücklich, sondern die Geliebte eines Mannes, der sich nicht für sie entscheiden kann und stirbt; Chemdas Pflegerin hat früher ihren Sohn zur Adoption freigegeben und versucht ihn als Erwachsenen zurückzugewinnen. Selbst Anati, Avners junge Kollegin, muss den Zweifel der Älteren noch einmal durchstehen, um eine Wende herbeizuführen.

Dadurch wirkt das in Bezug auf die Familie Horowitz ohnehin konstruiert wirkende Szenario noch konstruierter. Es ist, als befänden sich alle Figuren zwischen uneingelöster Hoffnung und unerfüllter Entschädigung. Erst die Enkelgeneration kann Distanz herstellen: Nizan springt über ihren Schatten und überlässt, ohne mit Liebesentzug zu drohen, der Mutter die Entscheidung über ein neues Kind. Avners halbwüchsiger Sohn Tomer lernt, beide Eltern zu verstehen. Darin spricht die Autorin, die 2004 bei einem Attentat in Jerusalem selbst schwer verletzt wurde und für die Schutzbedürfnisse des Staates großes Verständnis hat, auch eine Hoffnung aus, die über den engen Familienhorizont reicht in das Land Israel. „Ich sage meinen Kindern immer“, sagt sie in einem Interview, „dass wir die Hoffnung nicht verlieren dürfen.“

Geschmeidiger wird die Konstruktion durch die präzise psychologische Innenschau der drei Protagonisten Chemda, Dina und Avner, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Erst allmählich fügt sie sich zusammen zu dem Familiendrama, das das jüdische Trauma wiederholt und die Erlösungshoffnung zum Ausgangspunkt hat. Viele Anspielungen und Motive weisen Shalev einmal mehr als profunde Kennerin der biblischen Geschichte aus, von der jüdischen Gefangenschaft bis hin zu den Fischen, die Chemda im Auftrag ihres Vaters im Chulasee fangen soll. In „dem doppelt gefalteten engmaschigen Netz“, in dem die Fische eingefangen werden, zwischen Liebe und Liebesentzug verheddern sich auch die Akteure.

Am überzeugendsten ist Shalevs von Mirjam Pressler aus dem Hebräischen übertragene bildbewusste Sprache, die aus den Gefühlsfalten und Verletzungszeichen ihrer Figuren hervorgetrieben wird: aus dem „Schweben“ der bewusstseinsgeminderten Chemda; oder aus dem „heiß laufenden Kontrollturm“ von Dinas Wechseljahren, während derer sie wie schon als magersüchtige Jugendliche dem „starken, wilden Trieb“ widersteht, „ganz zu verschwinden, nicht mehr zu existieren“. Mit der vorweggenommenen vollendeten Zukunft erschließt die Autorin dabei den Möglichkeitshorizont. Denn nur „Chemda ist schon verloren“. Ihre Erlösung ist jenseitig, alle übrigen haben sich in guter jüdischer Tradition im Diesseits zu beweisen.

Zeruya Shalev: Für den Rest des Lebens. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, Berlin 2012.

520 Seiten, 22,90 €.

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