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Der Berliner Multi-Künstler und Soziologe Urs Jaeggi verwandelt in Birkenwerder das alte Wasserwerk in einen fantastischen Ausstellungsort.

© Christian Schneegass

Zum Tod des Soziologen, Autors, Künstlers Urs Jaeggi: Radikal souverän, radikal offen

Aus Fundstücken machte er Kunst, aus Kunst ein allumfassendes Lebenskonzept: Urs Jaeggi verfolgte drei Karrieren.

„Kunst ist überall“ lautete der Titel eines Buches von Urs Jaeggi, in dem er seinen Vorschlag für ein Denkmal der ermordeten Juden Europas dokumentiert, sein unangemeldetes Projekt für die Documenta 12 in Kassel, seine überraschenden Performances in einem Charlottenburger Delikatessengeschäft oder dem U-Bahnhof Hermannplatz.

Auf die erste Seite schrieb er mir damals unter eine kleine Zeichnung, die Wege in alle möglichen Richtungen zu zeigen schien, krickelig die Worte „wie wer wann warum“.

Urs Jaeggi hat das Motto „Kunst ist überall“ selbst gelebt

Er selbst hat in die unterschiedlichsten Richtungen gearbeitet, das Motto „Kunst ist überall“ überzeugt selbst gelebt. Aus zufälligen Funden wurden bei ihm Skulpturen, aus zunächst kleinen Zeichnungen ganze Wandbemalungen. Wer seine Ausstellungen besuchte, konnte nur staunen, welche Welten sich hinter banalen Objekten eröffneten – und sei es das Alphabet getrockneter Bananenschalen, wie es bei ihm zuhause aufgereiht hing.

Dabei war die bildende Kunst nur eine von Urs Jaeggis Professionen, die er zuletzt und vielleicht am intensivsten ausgeübt hat. Geboren in Solothurn absolvierte er zunächst eine Banklehre, holte das Abitur nach und arbeitete sich hoch bis zum Soziologieprofessor.

Die politische Wachheit nahm er aus dem Elternhaus mit

Nach Stationen an Hochschulen in Bern, Bochum und New York bekam er einen Ruf an die FU, wo er 1972 bis 1993 am Institut für Soziologie lehrte und durchaus streitbar war. Die politische Wachheit hatte ihm sein sozialdemokratisches Elternhaus mitgegeben.

Als Jaeggi nach Berlin wechselte, war sein Buch „Macht und Herrschaft in der BRD“ bereits drei Jahre zuvor erschienen und mit einer Auflage von 400 000 Exemplaren zu einer Pflichtlektüre der Studentenbewegung geworden. An der Machtkonzentration einiger weniger habe sich eigentlich nichts geändert, konstatierte er viele Jahre später.

Gegen Ende seiner Unilaufbahn begann seine dritte Karriere als Künstler

Er selbst teilte sich gegen Ende seiner Hochschullaufbahn seinen Posten als Ordinarius mit einer Kollegin, um sich mehr der Bildhauerei widmen zu können. In Moabit hatte er sein Atelier.

Die Kunst wurde zu seiner dritten Karriere, denn neben der wissenschaftlichen Arbeit als Soziologe war Urs Jaeggi Schriftsteller. Immer wieder gingen in seine Romane autobiographische Elemente ein, etwa in „Grundeis“ (1978) oder „Grundrisse“, für den er 1981 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

Jaeggis Roman besaßen immer autobiographische Elemente

Schauplatz ist das Berlin der späten 1970er Jahre, die Hauptfigur ein Architekt, den die Studentenbewegung prägte. „Versuch über den Verrat“ und „Rimpler“ ergänzten den Roman zu einer Trilogie. Mit „Soulthorn“ kehrte Jaeggi als Autor in seine Heimatstadt zurück.

Mut und Unerschrockenheit hat auch seine Arbeit als Künstler geprägt. Jaeggi hat immer dafür plädiert, dass die Kunst radikal souverän, radikal offen sein müsse. Mit seiner letzten großen Ausstellung im vergangenen Sommer im alten Wasserwerk von Birkenwerder führte er das wieder vor, bezog die Ventile, Zahnräder und Rohre der Spielstätte mit ein wie zuvor schon bei Präsentationen in der Berliner Malzfabrik.

Soziologie, Schreiben, die Kunst bildeten bei ihm eine Einheit

Jaeggi verwandelte Orte, gab ihnen durch collagenartig hinzugefügte Buchstaben und Textelemente eine andere Bedeutung. Soziologie, Schreiben und bildende Kunst fügten sich bei ihm zur Einheit. Am Samstag verstarb Jaeggi mit 89 Jahren in Berlin.

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