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Der Historiker, Autor und Terrorismus-Experte Walter Laqueur, aufgenommen im November 2001.

© picture-alliance / ZB

Zum Tod von Walter Laqueur: "Europa wird zu einem Museum"

Walter Laqueur war liberal-konservativer Aktivist, scharfzüngiger Streiter, brillanter Analytiker. Und er warnte vor kollektiver Depression. Ein Nachruf

Um einen Geistesmenschen zu beschreiben, nimmt die Sprache oft Anleihen aus dem Reich des Lichts. Er habe glänzende Ideen, funkelnde Gedanken, düstere Ahnungen. Auf einen trifft all das mit Sicherheit zu: Walter Laqueur – genialer Autodidakt, Journalist, Historiker, Intellektueller, liberal-konservativer Aktivist, scharfzüngiger Streiter, brillanter Analytiker. Laqueur hörte das Gras wachsen, bevor es gepflanzt worden war. Seine Antennen ließen ihn Entwicklungen spüren, die auszusprechen auf trägere Gemüter verstörend wirkte. Nun ist er im Alter von 97 Jahren in Washington D.C. gestorben.

Sein Leben zeugt von den prägenden Momenten des mörderischen, ideologieüberfrachteten 20. Jahrhunderts. Geboren 1921 in Breslau wird das Kind aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie schon früh ein leidenschaftlicher Zeitungsleser. Er sympathisiert mit dem Kommunismus, ihn irritiert der Aufstieg des Nationalsozialismus. In letzter Minute, am 7. November 1938, emigriert er als damals 17-Jähriger nach Palästina. Eltern und Verwandte lässt er zurück, sie werden von den Nazis ermordet.

In Jerusalem besucht Laqueur die Hebräische Universität, bricht das Studium aber bald ab. In seinem Buch „Geboren in Deutschland“ sieht er sich rückblickend als Teil einer zwischen 1914 und 1928 geborenen Generation deutscher und österreichischer Juden, die nach 1933 emigriert waren. Sie seien „Wanderer zwischen den Welten“, „Überlebende durch Glück“. Das Schicksal habe sie in der ganzen Welt verstreut, „aber viele von ihnen machten sich einen Namen, vielleicht gerade deshalb, weil sie entwurzelt worden waren“. Die Erfahrung des Exils als Bitternis und Chance zugleich.

Er warnt vor den Gefahren des islamistischen Fanatismus

Mit 35 Jahren verlässt Laqueur Israel, reist durch Europa, besucht in Paris das legendäre Büro des Kongresses für kulturelle Freiheit, das, von der CIA unterstützt, während des Kalten Krieges die demokratischen Werte gegen den sowjetischen Totalitarismus verteidigte. Gemeinsam mit Arthur Koestler, Melvin Lasky, André Gide und Raymond Aron schreibt er Essays und Pamphlete, verfasst Rundschreiben und publiziert Periodika. Von Paris reist er nach London, wo er das Institut für Zeitgeschichte („Wiener Library“) leitet und von 1965 bis 1994 als Direktor des „Institute of Contemporary History“ arbeitet.

Was erklärt den rasanten Aufstieg der NSDAP? Warum erkannten die Deutschen nicht die Gefahren, die von Hitler ausgingen? Diese Fragen beschäftigen Laqueur auch, nachdem er von London nach Washington D.C. ans „Center for Strategic and International Studies“ übergewechselt war.

Russland, Nationalsozialismus, Zionismus, Totalitarismus, Terrorismus, Europa: Um diese Themen kreist sein Denken. Früh warnt er vor den Gefahren des islamistischen Fanatismus, prognostiziert Terroranschläge gegen „weiche Ziele“ wie Züge und Massenveranstaltungen. Dem „arabischen Frühling“ wiederum werde ein „kalter Herbst“ folgen. Wie unsentimental, wie wahr und wie prophetisch liest sich vieles davon.

Manchmal schwingt Enttäuschung mit

Zu seinem 90. Geburtstag kamen mehr als hundert Gäste, darunter ein Großteil der politischen und intellektuellen Prominenz von Washington D.C. Das überragende Thema aber war Europa. Drei Bücher hat Laqueur darüber verfasst, und die Reihenfolge der Titel sagt bereits alles: „Europa aus der Asche“ (1970), „Die letzten Tage von Europa“ (2008), „Europa nach dem Fall“ (2013). Pessimistischer geht’s kaum. Eine schrumpfende Bevölkerung, die unbewältigte Einwanderung aus muslimischen Ländern, Willensschwäche, Ermüdung, kollektive Depression: Diese Faktoren machen, so Laqueur, aus dem alten Kontinent bald einen kulturellen Vergnügungspark für Neureiche aus China und Indien.

Das klingt hart – und es schwingt Enttäuschung mit. Lieber einmal zu drastisch warnen als einmal zu wenig: Auch diese Lektion haben das Leben und die Geschichte diesen Mann gelehrt.

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