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Historisches Fotobuch: Die Kreuzberger Rettung

Kreuzberg SO36 - zum Abriss freigegeben, für eine unsinnige Stadtautobahn entlang der Oranienstraße oder das Beton-Monster NKZ am Kottbusser Tor. Der Fotograf Dieter Kramer hat in seinem neuen Bildband diese Kreuzberger Zeiten festgehalten.

Irgendwann war das letzte Schultheiss gezapft bei „Tunnel-Krause“. Nach ihm verschwanden aus der Görlitzer Straße auch die Kohlenhucker, die täglich aus ihrem Lager die Kohlen-Kiepen die bucklige Kellertreppe hochwuchteten, bevor sie nebenan bei „Tunnel-Krause“ ihre längliche Mittagspause verbrachten. Das war die Zeit, als im Winter der Braunkohle-Mief in den Mänteln hing, und im Wrangelkiez nur wenige Autos parkten. Kreuzberger Geschichte – und vor allem Geschichten über einen Kiez, der damals zumeist aus heruntergekommenen Mietskasernen bestand, ohne Zukunft.

Wer konnte, entfloh in die Verheißung der schönen neuen Wohnwelt, ins Märkische Viertel oder Gropiusstadt. Kreuzberg SO36 – zum Abriss freigegeben, für eine unsinnige Stadtautobahn entlang der Oranienstraße oder das Beton-Monster NKZ am Kottbusser Tor. Der Fotograf Dieter Kramer hat diese Kreuzberger Zeiten und Zeitenwenden festgehalten; seine Fotos aus vier Jahrzehnten sind ein spannendes Dokument über die städtebauliche und soziokulturelle Entwicklung des Bezirks zwischen Rebellion und Ghetto.

Heute unvorstellbar im Szene-Kiez, dass Kramer 1968 in der Lübbener Straße eine Wohnung mit Werkstatt für 70 Mark im Monat mieten konnte und dazu noch einen ganzen Hinterhof zum Begrünen. Auch nicht, dass er sich einen leerstehenden Laden einfach dazunehmen konnte, weil es niemanden interessierte und das Haus ohnehin auf der Abrissliste stand. In seinen Fotos hat Kramer eingefangen, wie in West-Berlin das Arbeiterviertel immer mehr herunterkam, dort hinten im toten Winkel der Weltgeschichte, mit Mauer und Todesstreifen im Rücken. Tausende von Wohnungen standen leer, weil nicht einmal mehr das Notwendigste investiert wurde.

Kramer hat aber auch miterlebt, wie sich der Bezirk wandelte: Wie erst die Familien wegzogen und nur noch die Älteren und Ärmeren blieben und wie innerhalb weniger Jahre die türkischen Neu-Berliner den aufgegebenen Kiez eroberten. Als Mitarbeiter der damaligen Stadtteilzeitung „Südost-Express“ hat er auch erlebt, wie aus dem Protest gegen die Kahlschlagpolitik des SPD-Senats eine Debatte um Zukunftsstrategien für Kreuzberg erwuchs, wie „Bolle“ brannte, und Hausbesetzer und alternative Projekte viele der Gründerzeithäuser retteten, die heute den Bezirk schmücken. Mit seinen Fotos, die liebevoll die Menschen und das Lebensgefühl eines rebellischen Bezirks oder das Verschwinden von traditionsreichen Geschäften und Lokalen festgehalten haben, nimmt Dieter Kramer die Leser mit auf eine ungewöhnliche Zeitreise. Am Mittwoch stellt er das Buch um 19.30 Uhr im Kreuzberg-Museum in der Adalbertstraße vor.

Warum die Schultheiss-Kneipe an der Görlitzer Straße „Tunnel-Krause“ hieß? Auf der anderen Straßenseite begann jener finstere Betongang, der von den Anwohnern so olfaktorisch treffend „Harnröhre“ genannt wurde und der unter das Gelände des schon Ende der sechziger Jahre abgerissenen Görlitzer Bahnhofs hindurchführte. Der Tunnel wurde Mitte der 80er bei der Umgestaltung des Parks abgerissen – da traf man sich in Tunnel-Krauses Stube schon zum Cocktail-Trinken in der legendären Marabu-Bar.

— Dieter Kramer:

Kreuzberg 1968 – 2013: Abbruch, Aufbruch, Umbruch.

213 Seiten, 27 x 23 cm, 550 Abbildungen,

Nicolai-Verlag, ISBN 978-3-89479-805-5, 29,95 Euro

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