zum Hauptinhalt
Der westliche Turm des Moabiter Kriminalgerichts.

© Thilo Rückeis

Berliner Türme (10): Unter dem Richterhimmel

Uralte Akten, Gitterblick und ein finsteres Labyrinth: eine Expedition zu den drei Türmen des Kriminalgerichts Moabit in der Turmstraße

Ein Text zur Turmserie? Klar, dachte ich, aber bitte weder über den Fernseh- (368 Meter) noch über den Funkturm (150), auch keinen übers Rote Rathaus (97) sowie die Rathaustürme Charlottenburg (88) oder Schöneberg (83) oder den Turm vom Alten Stadthaus (80), um mal eben das grundsolide Berliner Gebäudegipfelranking abzuklappern – ohne Hochhäuser, Kirchtürme und schlichte Sendemasten natürlich. Aber wär’ doch lustig, ausgerechnet in der medial und auch sonst eher dürftig ausgeleuchteten Turmstraße in Moabit einen Turm zu finden. Oder zumindest ein Türmchen.

Das war der Ausgangspunkt, ich müsste hinzufügen: der übersichtliche Ausgangspunkt. Über die Turmstraße ließ sich immerhin mit einem Klick – und durchaus erhellend – herausfinden, dass sie ihren Namen der Sichtachse zwischen dem Turm der Sophienkirche in Mitte und jenem der Spandauer Nikolaikirche verdankt. Aber, wie gesagt, bitte keine Kirchtürme, und jetzt auch nicht jener der neugotischen Heilandskirche (87 Meter) an der Turmstraße/Ecke Thusneldaallee! Dann aber rückte, das hätte ich gleich wissen sollen, ein imposantes Gebäude am äußersten östlichen Turmstraßenrand in den Blick: das Kriminalgericht Moabit, übrigens das größte Kriminalgericht Europas. Bingo, und es hat sogar gleich zwei Türme.

Das stimmt insofern, als die satte 210 Meter lange preußische Bombasto-Fassade, hübsch symmetrisch beidseits des Hauptportals, von zwei eher schlanken Türmen gekrönt wird, beide 60 Meter hoch. Bei genauerem Hinsehen aber findet sich, leicht ins Gebäudeinnere versetzt und zur Rathenower Straße hin, ein weiterer, etwas dickerer, niedrigerer Turm – der einstige Wasserturm des 1906 eröffneten „Königlichen Criminalgerichts“, das damals, verblüffend autonom, neben einem Wasserwerk sogar ein Kraftwerk sein Eigen nannte. Zu schweigen von der gewaltigen elektrischen Uhrenanlage mit der „Mutteruhr“ in der Mittelhalle – und dieses Riesenfoyer ist sogar höher als das Brandenburger Tor!

Derart Lehrreiches findet sich in allerlei Materialien, die mir der Pressesprecher Tobias Kaehne vor der vereinbarten Besteigung der nunmehr drei Türme zur Verfügung stellt. Aber halt, Kaehne? Gibt es da nicht einen zweiten nahezu selben Namens? Aber ja, Volker Kähne vom Jahrgang 1941, einst unter Journalisten hochgeschätzter Justizsprecher und jahrelang Eberhard Diepgens Senatskanzleichef, hatte in seinen Anfängen selber ein Dienstzimmer im Kriminalgericht – und ist 1988 sogar als Autor eines Buchs über „Gerichtsgebäude in Berlin“ hervorgetreten. Nur auf die Türme sei er nie gestiegen, sagt er am Telefon, und die Einladung, dies nun nachzuholen, nimmt er mit Freuden an.

Volker Kähne (l.), einst Justizsprecher und Eberhard Diepgens Senatskanzleichef, hatte ein Dienstzimmer im Gericht. Tobias Kaehne ist dort Pressesprecher.
Volker Kähne (l.), einst Justizsprecher und Eberhard Diepgens Senatskanzleichef, hatte ein Dienstzimmer im Gericht. Tobias Kaehne ist dort Pressesprecher.

© Thilo Rückeis

So also lernen Kähne & Kaehne, die nun nochmal jegliches Vater-Sohn-Verhältnis verbindlich dementieren, sich an einem schönen Spätsommernachmittag am Hauptportal des Gerichts kennen, und die Wanderschaft zu Turm & Turm & Turm an der Turmstraße beginnt. Mit dabei: die Schlüsselgewaltigen Gerd Beister, Leiter des Zentralen Dienstes Sicherheit, und sein Mitarbeiter Stefan Dörr, außerdem Tagesspiegel-Fotograf Thilo Rückeis. Fast eine kleine Reisegruppe sind wir zu sechst – oder unternehmen wir eher eine Art Expedition?

Die erweist sich immerhin als überraschend bequem. Per Lastenaufzug geht es zunächst fast bis auf Dachbodenniveau und von dort aus auf eher kurzer Strecke hinauf ins Innere der Türme. Andererseits stromern wir durch weitläufige, selten begangene, teils gewölbeartige, stets durch Brandschutztüren abgetrennte Räume, in denen uralte Akten lagern oder auch nur kahle Regale stehen. Und als Volker Kähne dort oben angesichts einer beeindruckenden technischen Vorrichtung scherzhaft fragt: „Und das hier ist also die Guillotine?“ – da mag einem der Verdacht in der dusteren Weltentlegenheit der gewaltigen Gemächer gar nicht mal abwegig erscheinen. Aber nicht doch, weiß Gerd Beister, mit dem Ding wurden früher die Kronleuchter der Mittelhalle hoch- und runtergezogen.

Ach ja, die Türme selbst, fast hätt’ ich sie vergessen. Im Wasserturm prangt über unseren Köpfen noch der 120 Kubikmeter fassende Tank, silbrig, wuchtig, längst leer. Vom östlich gelegenen der beiden Haupttürme wiederum hat man – Berliner Skyline hin oder her – den deutlichsten Blick auf das Gelände der nahen Untersuchungshaftanstalt, amtlich „JVA Moabit, Haus 1, Flügel A bis E“, und Oberoberoberwachtmeister Gerd Beister deutet von hier aus auf die vergitterten Fenster seines früheren Büros. Natürlich sieht man die Gitter nach einer Weile nicht mehr, lerne ich hinzu, was vielleicht auch durch die Gitterzulage befördert wird, die all jenen monatlich aufs Gehalt draufgepackt wird, die im Vollzug mit Gefangenen zu tun haben. Wie jetzt, Gitterzulage? „95 Euro“, sagt Beister. „Brutto.“

Im Westturm könnte man Kafkas "Prozess" und "Schloss" albträumen

Der westliche Turm des Moabiter Kriminalgerichts.
Der westliche Turm des Moabiter Kriminalgerichts.

© Thilo Rückeis

Der Westturm – ich nenne ihn mal so, eine offizielle Bezeichnung gibt es nicht – ist insofern der verwunschenste, unheimlichste, als er nahezu nie betreten wird. Vergittert sind die Fenstereinlasse wegen der Tauben, aber im dicken Staub unter unseren Füßen entdecken wir unter anderem ein Vogelskelett. Und die rostzerfressene Leiter hinauf ins stockfinstere obere Podest, ob sie wohl hält? Der Berliner Sommerwind weht sanft durch die Lichtschlitze, ein Freiheitsgefühl aber will sich nicht nur wegen der Knastnachbarschaft nicht einstellen. Allzu eng wirkt diese Parallelwelt unterm Richterhimmel, zu labyrinthisch mit Türen, auf denen mit Ölfarbe etwa „Boden 19 zum Boden 26“ geschrieben steht; und würden wir hier nicht lärmend und sprücheklopfend wie Kinder im dunkleren Wald durchmarschieren, wäre das eine Welt, in der man Franz Kafkas „Prozess“ und „Schloss“ mühelos gleichzeitig albträumen könnte.

Später sitze ich mit Volker Kähne ganz im Hellen, in der Pizzeria „Al Tribunale“, schräg gegenüber vom Turmstraßenkoloss. Und kurioserweise führt das Gespräch zu gleich zweien der anfangs genannten Berliner Türme. Auf den Turm des Roten Rathauses, wo er ein Jahrzehnt lang arbeitete, ist Kähne damals ebenfalls nie gestiegen; immerhin hat er nach der Wiedervereinigung dafür gesorgt, dass dort oben eine richtig große Berlinflagge weht. Wohl aber kennt er – und nur zu gut – den Turm des Alten Stadthauses am Molkenmarkt; dort arbeitete er 1990 ein halbes Jahr als Berater der Bundesregierung, zuständig für die „Erfassung und treuhänderische Verwaltung der Vermögen der Parteien und Massenorganisationen“ – eine bei den betroffenen Institutionen nicht eben beliebte Recherchetätigkeit.

„Unsere Kommission bestand aus drei Leuten“, erinnert sich Kähne, „ein Ost-Berliner Anwalt, eine Sekretärin und ich.“ Das zur Verfügung gestellte Equipment: ein Ost-Telefon und eine Schreibmaschine. Als aus dem Telefon mitunter nach einem Knacken „Wenn ihr nicht aufhört, passiert was“ quäkte, wurde Kähne mit einem West-Funkgerät ausgestattet. Fortan ging’s, zwecks ungestörteren Empfangs, täglich auf den Turm.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false