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In der Mitte der 600.000 handgeformten Figürchen: Ein Ei aus Bronze. Auf die Plattform ist eine Weltkarte gefräst - auf diesem Feld starben Menschen aus 50 Nationen.

© Harold Naeye

100 Jahre Weltkriegsende: 600.000 Tonfiguren erinnern an Kriegstote in Belgien

Ein ungewöhnliches Projekt des Künstlers Koen Vanmechelen gedenkt der Toten des Ersten Weltkriegs in Belgien.

Es kostet schon Kraft, den Klumpen aus belgischem und deutschem Lehm zu kneten und in eine Form zu pressen, die am Ende eine stark abstrahierte kauernde Figur darstellt, die Arme verschränkt, das Rückgrat gerade so erkennbar. „Das muss man jetzt mit seinen eigenen Fingern, am besten den Daumen, formen. Das verleiht jeder Figur Individualität und ist gleichzeitig ein Ausdruck des Widerstands“, sagt der belgische Künstler Koen Vanmechelen, als er seiner Projektleiterin Lieselotte Moeyaert zuschaut, wie sie bei einer Präsentation in der belgischen Botschaft in Berlin einen Rohling bearbeitet. Sie hat Übung darin, hat Workshops begleitet für das Projekt „ComingWorld RememberMe“ (CWRM), das großartige Gedenkprojekt für die 600 000 Toten des Ersten Weltkriegs in Belgien.

Die flämische Regionalregierung hatte die Idee, von 2014 bis zum Jubiläumsjahr 2018 ein zukunftsweisendes, versöhnendes Projekt zu starten, dass an jeden einzelnen erinnern soll, der in Belgien in der Zeit gestorben ist, ob Zivilist oder Soldat gleich welcher Nation. Im 2012 renovierten „In Flanders Fields Museum“ in Ypern hatte man begonnen, die Namen aller Kriegstoten zu sammeln. Jeden Tag werden dort alle Namen an die Wand projiziert, die genau an diesem Tag vor 100 Jahren im Krieg gestorben sind.

Am Ypernbogen, wo deutsche und britische Soldaten gegeneinander kämpften, entstand die Installation mit 600.000 kleinen Tonskulpturen.
Am Ypernbogen, wo deutsche und britische Soldaten gegeneinander kämpften, entstand die Installation mit 600.000 kleinen Tonskulpturen.

© Harold Naeye

600 000 ist eine Zahl, die man sich kaum vorstellen kann. Dabei hilft nun das CWRM-Projekt von Koen Vanmechelen, der die oben beschriebene trauernde Figur entworfen hat. Wer bereit war, fünf Euro zu geben, konnte sich in Workshops in Belgien und Europa mit dem Thema auseinandersetzen. Beim Start 2014 war keinesfalls klar, ob wirklich 600 000 Figuren bis 2018 fertig sein würden. Doch der Erfolg war überwältigend. Jede Figur ist einem Toten des Ersten Weltkriegs zugeordnet und bekommt eine Erkennungsmarke aus Metall mit dem Namen des Opfers und wie des Bearbeiters – so verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart.

Im ehemaligen Niemandsland der Domäne De Palingbeek bei Ypern, wo sich im so genannten Ypernbogen deutsche und vor allem britische Soldaten gegenüberstanden und abschlachteten, sind ab Freitag in einem einzigartigen Landart-Projekt diese 600 000 Tonfiguren um ein großes Ei aus Bronze angeordnet. Eine stumme Armee der Toten, die anklagt und mahnt: Nie wieder Krieg!

Mehr als 4000 Menschen haben beim Aufstellen der Figuren geholfen

Das Arrangieren der 600 000 Figürchen war allein schon eine Riesenaufgabe: „15 000 haben wir pro Tag platziert“, erzählt Koen Vanmechelen. Die Tonskulpturen wurden in der Form des Urkontinents Pangea angeordnet. Mehr als 4000 Menschen haben beim Aufstellen geholfen.

600.000 Figürchen, alle sind von Hand modelliert.
600.000 Figürchen, alle sind von Hand modelliert.

© Harold Naeye

Das Ei aus Bronze in der Mitte platzt auf und ungefähr 50 000 kleinere Skulpturen heraus quellen, die Kinder in Workshops hergestellt haben. Diese Skulptur steht auf einer Plattform, in die die heutige Weltkarte gefräst ist. Das Ei spielt im Werk von Vanmechelen eine zentrale Rolle, es steht für Fruchtbarkeit und Zukunft.

Dem Park der Domäne De Palingbeek ist heute nicht mehr anzusehen, was sich vor 100 Jahren abgespielt hat, wie hier getötet und gestorben wurde, wie Granaten die Erde pflügten und die Menschen zerfetzten. In dem Besucherpavillon steht eine Glasvitrine, die alle 600 000 Erkennungsmarken enthält: „The Future Depends on Forgotten Memories“ steht darauf zu lesen – hier mischen sich die Generationen und Nationen der Toten und derer, die diese Objekte geschaffen haben.

Am Beginn des Pfades steht ein weiteres Ei aus Bronze, das von Hühnerpfoten gehalten wird und das womöglich einst alle Erkennungsmarken aufnehmen wird. Aber damit nicht genug der Symbolik. Koen Vanmechelen will etwas weitergeben: Von den fünf Euro pro Skulptur gehen je 2,50 Euro an das Centre for Children in Vulnerable Situations in Nord-Uganda und Ost-Kongo sowie an die Future of Hope Foundation in Simbabwe. Durch die Produktion der Tonskulpturen sind so 1,5 Millionen Euro für Kinder in Not in Afrika zusammengekommen.

Die Land-Art-Installation ist bis zum 11. November zu sehen, dem Tag des Waffenstillstands

Vier Jahre lang haben Menschen in Belgien und überall auf der Welt diese Tonfiguren produziert, haben dabei diskutiert, reflektiert, sich erinnert, der Toten gedacht und Freundschaften geschlossen. „Eine Generation, die ohne Krieg aufgewachsen ist, könnte versucht sein zu denken, dass Krieg vielleicht doch nicht so schlecht ist. Die Figuren erzählen uns heute, dass Krieg niemals eine Lösung sein kann“, sagt Vanmechelen.

Unter den Toten der belgischen Schlachtfelder sind auch viele Kolonialsoldaten, nach heutigen Maßstäben Menschen aus 50 Nationen. So gesehen verbindet Koen Vanmechelens Werk dauerhaft die Welt von damals mit der Welt von heute.

Zu sehen sein wird die Installation bei freiem Eintritt bis zum 11. November, dem Tag des Waffenstillstands vor 100 Jahren. Danach bemüht man sich um eine respektvolle Entfernung der Figuren. Koen Vanmechelen gibt zu bedenken: „Das Projekt kann auch eine eigene Dynamik entwickeln. Die Menschen müssen bereit sein, loszulassen und etwas zu geben. Man muss als Künstler auch Zuschauer des eigenen Werkes sein können.“

Weitere Infos: www.cwrm.be/en

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