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Ein spektakulärer Kellerfund: Stoffmustererkennung

Ein zufälliger Fund von Stoffmusterbüchern im Keller der Hochschule für Wirtschaft und Technik entwickelt sich für die Professorin Sibylle Einholz zu einem wahren Schatz.

Fast könnte man meinen, die Kartons wurden extra für Sibylle Einholz versteckt. Was kann es Schöneres für eine Museumskundlerin geben, als alte, längst vergessene Dinge zu entdecken, die nur darauf warten, dass man die Spinnweben und den Staub wegpustet, um sie gründlich zu erforschen. Ganz und gar zufällig entdeckte die Professorin 2005 die alten Pappkisten im Keller der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in der Warschauer Straße. Wie spektakulär dieser Fund war, wurde Sibylle Einholz erst nach und nach bewusst. Die Mappen aus brüchigem Papier ließen von außen nicht erkennen, was sich in ihnen verbarg. „Und dann springt einem eine Flut an Farben und Mustern entgegen“, sagt Sibylle Einholz. „Und so was im eigenen Haus!“

Im Studiengang Museumskunde beschäftigen sie sich genau damit, Nachlässe, Sammlungen zu verwalten, sie zu hegen und zu pflegen. Da kam ihr so ein Fund gerade recht: Stoffmuster in rund 55 Büchern und Mappen gesammelt, insgesamt etwa 3500 Seiten, voll mit Stoffquadraten aus der Zeit von 1830 bis 1930. Fast sechzig Jahre hatte diese Bücher niemand mehr in der Hand gehabt. Was den Fund für Sibylle Einholz und ihre Kollegin Dorothee Haffner besonders spannend macht: Er zeigt auch die Geschichte ihrer Hochschule. Die Stoffmustersammlung wurde bereits 1856 mit der Gründung der Königlichen Musterzeichnen-Schule angelegt.

Auch Karl Friedrich Schinkel entwarf Stoffmuster

Sibylle Einholz ist immer noch angetan, wenn sie die weißen Stoffhandschuhe überstreift und in den Mappen blättert. Viele Muster sind abstrakt, manche fast poppig: Auf schwarzem Grund mäandern bunte Linien und Kreise, Streifen und Sterne wechseln sich ab. Auf einer Seite hält sie inne: Winzige schwarze Punkte bilden zackigen Formen wie Amöben, darin wie kleine Ostereier bunte Flecken in Grün und Rot: Keine Frage, das ist ein sehr modernes Muster. Sibylle Einholz war sich sicher: Diese Muster sind aus der Zeit des Art déco, also frühes 20. Jahrhundert. Aber dann fand sie in einem Buch den Namen einer der Musterzeichner: Karl Friedrich Schinkel. Der hatte aber fast hundert Jahre früher gelebt und bei der damals erfolgreichen Berliner Seidenwebmanufaktur George Gabain Stoffe in Auftrag gegeben.

Das vergleichsweise kleine Buch, das von 1836 bis 1856 angelegt wurde, ist das Herzstück der Sammlung. In einer Mappe fanden sich Muster des Stoffes, mit dem der neue Pavillon des Charlottenburger Garten ausgestattet wurde. Bisher mussten die Restauratoren der Berliner und Brandenburger Schlösser mithilfe von Schwarz-Weiß-Fotografien aus den fünfziger Jahren den Originalzustand rekonstruieren. Ein blasses Blau, ein sanftes Rosarot – so stellten sich die Restauratoren die Vorhänge, die Wandbespannungen und Möbelborten aus der Zeit des Biedermeiers vor. Das Gabain’sche Stoffmusterbuch belehrte sie eines Besseren: Die Vorhänge nach einem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel waren knallblau, die goldenen Sterne darauf waren nicht aufgestickt, sondern eingewebt. Jetzt zieren die Stoffe genau nach den historischen Vorgaben den Pavillon.

In den Büchern ist genau notiert, wie viel eine Elle Stoff kostet, welches Material und welche Webtechnik verwendet wurden und vor allem für was der Stoff gedacht war. Die Farben haben blumige Bezeichnungen, die Varianten eines Musters ziehen sich über mehrere Seiten. Indem man in den Büchern blättert, kann man sich die Entwicklung der Textilindustrie bildlich vorstellen: Als immer mehr Baumwolle aus Amerika importiert wird, steigen die Stoffmengen. Sibylle Einholz nennt das die „Verbürgerlichung der Möglichkeiten.“ Mit Drucken wurde Gewebestruktur imitiert. Als dann die Farbstoffe aufkamen, wurde es bunt und das Experimentieren begann: Streifen und Blümchen wurden nebeneinander gedruckt und darüber kam noch ein Karo.

Kopieren hat in der Modeindustrie Tradition, das sieht man an den Konkurrenzbüchern

Ganz anders als die offiziellen Musterbücher der Stofffirmen sehen die Konkurrenzbücher aus. Kleine und große Stoffstücke mit unregelmäßigen Kanten sind nebeneinander geklebt – nicht nach Farben und Mustern geordnet. Entscheidend war, ob der Stoff interessant genug ist. Das Kopieren hat in der Modeindustrie Tradition: „Textildesigner haben immer eine Schere in der Tasche, um sich auf Messen heimlich Stoff der Konkurrenz ab zu schneiden“, sagt Sibylle Einholz. Die Musterzeichner entwickelten so neue Stoffe. Auf diese Weise tauchten Muster auch schon mal auf einen anderen Kontinent als typisch lokal wieder auf. Auch das erforschen die Wissenschaftler mithilfe der Musterbücher.

All das war auch für die Vorgängerinstitutionen der Hochschule für Wirtschaft und Technik interessant: Aus der Königlichen Musterzeichnen-Schule wurde die Städtische Höhere Webschule, dann am Anfang des vergangenen Jahrhunderts die Textil- und Modeschule der Stadt Berlin. Die Musterbücher dienten als Anschauungsmaterial für modernes, innovatives Design – einige der Stoffmuster entstanden wohl auch an den Webstühlen der Schule.

Spätestens 1945 wurden die Stoffmusterbücher in unauffällige graue Kartons verpackt und eingelagert. In der jungen DDR interessierte sich keiner für die Vergangenheit – es ging darum, die Zukunft aufzubauen. Auch die nun eher technische Ausrichtung der Ingenieurschule für Bekleidungstechnik tat ihr Übriges.

Bald kann man sich die Stoffmuster im Internet ansehen

Noch sind die Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter damit beschäftigt, die Bücher zu säubern und zu sichten. Sie haben hier auf dem neuen Campus in Oberschöneweide alles, was es braucht: Archive, Labore und viele Fachleute: Die Restauratoren reinigen das Papier, die Modedesigner untersuchen das Gewebe und legen ein Glossar der technisch-historischen Begriffe an. Und die Informatiker helfen beim aktuellen Projekt: der Digitalisierung. Die Museumskundlerinnen Dorothee Haffner und Sibylle Einholz wollen den Fund mit möglichst vielen teilen. Deshalb sollen die Stoffmusterbücher nun Seite für Seite eingescannt und inhaltlich erfasst werden. 110000 Euro stellte die Berliner Kulturverwaltung aus dem Europäischen Fond für regionale Entwicklung für dieses Pilotprojekt zur Verfügung. In zwei Jahren veröffentlichen die Wissenschaftler die digitalisierten Stoffmuster in der virtuellen Bibliothek Europeana. „So soll das mobile Erbe der europäischen Kultur sichtbar werden“, sagt Dorothee Haffner.

Nicht nur für Museen und Historiker ist das wichtig: Auch für die Zukunft können die Stoffmuster nützlich sein. So entwickelten Modestudenten aus den historischen Mustern mithilfe von modernster Technik wie Digitaldruckern und Ganzkörperscannern die Kollektion „Utopia“.

Die Professorin Haffner fühlt sich als Leiterin des Digitalisierungsprojektes verantwortlich gegenüber den Originalen. „Das ist unser Kerngeschäft der Museumskunde.“ Am Anfang habe sie noch viel herumgezeigt, verglichen, aber die Bücher sind empfindlich und sie sollen noch lange helfen, die Vergangenheit zu verstehen und die Zukunft neu zu gestalten, deshalb liegen sie jetzt in einem gut temperierten Keller. Viele Stoffe kann man heute gar nicht mehr herstellen – niemand beherrscht die alten Techniken, auch die Webstühle gibt es nicht mehr.

„Das ist immaterielles Kulturgut“, sagt Sibylle Einholz. In einer Woche verabschiedet sich die Entdeckerin der Stoffmusterbücher mit einem Symposium über eben jene aus ihrem Beruf. Sie kann mit einem guten Gefühl in den Ruhestand gehen: Mit ihrem Fund hat sie die Grundlage für die Forschungsarbeit vieler ihr folgender Generationen geschaffen.

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