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Schulleiter Simon Pistorius (Ulrich Tukur, rechts) vergeht sich am 13-jährigen Frank (Leon Seidel).

© ARD

ARD-Film "Die Auserwählten": Odenwaldschule: Ein Paradies mit Folterkeller

Der ARD-Film "Die Auserwählten" arbeitet den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule auf. Im Fokus stehen nicht die Täter, sondern das Leid der Opfer.

Der Teufel trägt Marmor. Die misstrauische Kamera gleitet durch die Wohnung des Odenwaldschulleiters Gerold Ummo Becker – er unterrichtete dort von 1972 bis 1985 –, der in dieser Fiktion Simon Pistorius heißt und von Ulrich Tukur gespielt wird: Griechische Plastikrepliken auf Tischen und Regalen, lauter entblößte Männer, Engel und Hermaphroditen, weiß und edel.

Und wenn der Film sich die Zeit nähme, den aufgeräumten Herrn Schulleiter im lässigen Leinenanzug dort auf dem Bildschirm zum Plaudern zu bringen, über griechischen Knabeneros etwa, über Kalokagathia, die Einheit von Tugend und Schönheit, die Größe der Reformpädagogik, die von Prüderie befreite Liebe zwischen Erwachsenen und Kindern, wer weiß, vielleicht würde das so manchen Zuschauer milder stimmen. Aber keine Chance, da ist Regisseur Christoph Röhl vor. Für ihn ist genug geredet, reflektiert, über die allgemeine Entgrenzungssucht der 68er-Epoche schwadroniert worden. Röhl will abrechnen, die ihm einzig wirkliche Wahrheit über die Odenwaldschule erzählen: die Qualen der missbrauchten Schüler.

Regisseur Röhl drehte bereits einen Dokumentarfilm über die Odenwaldschule

Röhl war 1999 Tutor an der Odenwaldschule. Er hat miterlebt, wie die Ikone der 68er-Kultur in den letzten Zügen lag, mit verwahrlosten Kindern, mit Drogensucht, mit der Orientierungslosigkeit von Lehrern, deren Ideen von Freiheit allmählich aus der Epoche fielen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte an diesem von außen idyllischen Märchenort, diesem Gral des Fortschritts tief im lieblichen Odenwald. Er spürte immer noch die Folgen der Verdrängung, das Vertuschen und Verschweigen im Namen des allmählich verblassenden pädagogischen Ruhms. Dabei hatte Becker bereits Mitte der Achtziger wegen seiner pädophilen Taten die Leiterfunktion aufgeben müssen. Röhl ahnte, dass ihn dieses Thema nicht loslassen würde, denn alles erwies sich als schlimmer, viel schlimmer, als er damals geahnt hatte.

Es vergingen fast drei Jahrzehnte, ehe das „pädagogische Paradies mit Folterkeller“ (so ein leidtragender Schüler) ausgemessen war: 132 Fälle von Kindesmissbrauch wurden bis heute gezählt, begangen nicht bloß von Becker, sondern von weiteren seiner Kollegen. Deren Zahl schwankt zwischen sechs und 18 Tätern.

1999 gab es die erste Zeitungsveröffentlichung in der „Frankfurter Rundschau“ (Überschrift: „Der Lack ist ab“) – missbrauchte Ex-Schüler klagten an. Aber es ereignete sich der für die vierte Gewalt typische Betriebsunfall: Kohls Parteispendenaffäre ließ die Odenwaldschule vom publizistischen Skandalradar verschwinden. Die Schule hatte in der ersten Erregung Aufklärung versprochen, aber weiter das Vergangene verdrängt. Gerold Ummo Becker, Geliebter des hochangesehenen Bielefelder Laborschulgenies Hartmut von Hentig und gut vernetzt in der Elite deutscher Bildungsforscher, war 2010 ohne tätige Reue verstorben. Die Staatsanwaltschaft sah nur Verjährung für seine Taten.

Im selben Jahr feierte die „OSO“ ihren hundertsten Geburtstag. Es wurde kein Jubelfest. Missbrauchte Ex-Schüler schrien ihre seelischen Verwundungen öffentlich heraus. Da nützte kein Bestehen auf die Großartigkeit der Reformpädagogik, auf die OSO-Verbundenheit der deutschen Geistesprominenz, die von Thomas Mann (1922 besuchte Sohn Klaus Mann für ein Jahr die Schule), über Wolfgang Hildesheimer bis zu Richard von Weizsäcker reicht. Die „protestantische Mafia“, wie der Soziologe Ralf Dahrendorf den Kreis der Odenwaldsympathisanten polemisch nannte, stand 2010 kein bisschen besser da als die katholische Seite mit ihren Missbrauchsskandalen.

Gedreht wurde auf dem Gelände der Schule

„Die Auserwählten“-Regisseur Röhl drehte 2011 den viel beachteten Dokumentarfilm „Und wir sind nicht die Einzigen“ über die Vorfälle an der Schule und spürte, dass es nicht reichte, nur die Stimmen von Opfern und Zeugen zu sammeln. Es galt für ihn, die Mechanismen der Sexerpressungsmaschine mit der Anschaulichkeit der Fiktion aufzudecken: „Wie kann man besser zeigen, dass sich ein Umfeld wegduckt als durch die Geschichte einer Figur, die langsam auf Missstände in einem geschlossenen System aufmerksam wird, aber nirgendwo Gehör findet?“

Bevor sich das Thema im Allgemeinen des Feuilletons aufzulösen drohte, in Erörterungen über eine Affinität der kulturrebellischen Reformpädagogik zu systematischer Überschreitung von Schamgrenzen, über das freibeuterhafte Eindringen einer Pädophilen-Lobby in die abstrakt-libertären Freiräume der Parteiprogramme von Grünen und FDP, erarbeitete Röhl mit dem Drehbuchautorenpaar Sylvia Leuker und Benedikt Röskau („Contergan“) sein Filmprojekt. Und man muss die gebeutelte Schule loben, dass sie die Dreharbeiten auf ihrem Gelände zuließ.

So entstand die glaubwürdige Grundlage für diese ergreifende Kinder-Passion. Sie ist nicht der hohen cineastischen Kunst, nicht dem Täterverstehen, sondern dem Leiden verpflichtet. Regisseur und Autoren haben die Figur der Junglehrerin Petra Grust erfunden und mit Julia Jentsch ideal besetzt. Sie nimmt wie eine „Alice im Wunderland“ (Röhl) den Zuschauer bei der Hand auf die Reise in das verlogene Reich der entfesselten 68er-Selbsttäuschungen. Nicht vergessen, es war die Zeit der ausgehängten WG-Klotüren, der Schamverdrängung. Alle sollten sexuell frei sein, Kinder und Erwachsene. Eltern sollten den hochbegabten Kindern sexuelle Attraktivität widerspiegeln, keine ödipalen Grenzen setzen.

Die Petra, die da Mitte der Siebziger in die OSO eintritt, ist erfüllt von den Ruhmeshymnen, die über die Schule in Umlauf sind. Sie freut sich über ihre Einstellung, sie freut sich auf die Schüler, für die sie ihr Fach Biologie interessant machen wird. Sie bewundert die Begeisterung ihrer Kollegen, deren Lässigkeit, die Ferne von Staatsschulbeamtentum und Leistungsterror. Doch im Wunderland ist alles faul. Die Schüler wirken belastet, seelisch wie erloschen. Auf Erkundung der schönen Landschaft entdeckt die Junglehrerin den Musiklehrer, der im VW-Bus mit einem Schüler, beide nackt, Strauß-Lieder hört. Bloß ein Spießer, der sich da was denkt?

Nicht wenige Schüler rauchen wie die Schlote, nehmen Drogen, haben keine Ziele, dafür eine selbstzerstörerische Wut. Der eloquente Schulleiter versteckt sich hinter idealistischen Sprüchen. Eiseskälte, wie wir Zuschauer sie im Marmor-Nippes auf dem Becker-Schreibtisch kennen lernten, scheint auch hinter seinen Apercus über den herrlichen pädagogischen Eros zu stecken. Der Schauspieler Tukur schwelgt in der Kunst der mimischen Verstellung. Sein Gesicht erzählt zugleich von Hohn, von Heiterkeit, von Zynismus und von der Verzweiflung der Schuld und Einsamkeit.

Aber er darf sich mit Worten nicht ernstzunehmend erklären. Er darf nur in der Sprache der Mimik reden. Der Film will den Täter nicht erklären, sondern sich der Opfer annehmen. Glitzernder und artistisch verführerischer wäre vielleicht Ersteres, wackerer und reeller ist Röhls Weg, den er mit der naiven, erfundenen Heldin durch die Schilderung des Seelengefängnisses wählt.

Rechtfertigung des Schulleiters: "Liebe ist etwas ungeheuer Schönes"

Die Biologielehrerin, so wollen es die Erfinder der Figur, kann der triebgesteuerte Verstellungskünstler nicht verhexen. Sie hält an ihrem mütterlichen Gefühl fest, Schüler zu retten. Einen besonders: Den 13 Jahre alten Frank Hoffmann (Leon Seidel), Sohn eines OSO-Aufsehers (Rainer Bock), der das langhaarige Kind mehr oder weniger bewusst den Fängen des geilen Leiters überlassen hat, weil er Frank als Lügner abgeschrieben hat, seit der behauptet, seine Mutter sei gestorben, obwohl sie die Familie verlassen hat. Abgeschoben, ausgeliefert, verzweifelt und ohne Chance, über die sexuellen Übergriffe zu sprechen, man muss nur in das lüsterne Gesicht des Täters sehen, um zu begreifen, was für eine schreckliche Gewalt der Missbrauch ausübt.

Petra, die in die Handlung Gesandte heutigen Missbrauchswissens, verlässt die Szene nicht als Retterin. Sie wehrt sich, spricht den Skandal zwar an, doch flieht, als Becker die Schule ungeschoren verlassen muss. Aufklärung gelingt nur durch die Zeugnisse und den Mut der Opfer. Fast nicht auszuhalten ist die Opferung des kleinen Volker (Nico Kleemann). Die verarmte Mutter liefert ihren Sohn bei Becker ab, die OSO nimmt auch Fälle vom Sozialamt. Becker tut es besonders gerne, bei denen muss er weniger Scherereien fürchten als bei den abgeschobenen Wohlstandskindern der Reichen.

Ungeheuer ist der Satz, den Becker zu seiner Rechtfertigung sagt: „Die Liebe ist etwas ungeheuer Schönes“. Man hört den kleinen Volker noch unter seiner Bettdecke schluchzen, den Becker gerade befingert und damit alles kindliche Vertrauen zerstört hat. Ungeheuer ist wahrlich solche Liebe. Volker bringt sich später um, ein als Motorradunfall getarnter Suizid. So stumm sprechen die Opfer.

„Die Auserwählten“, ARD, Mittwoch, um 20 Uhr 15

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