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Medien: Aus einer anderen Welt

Die ARD zeigt Jennifer Nitschs letzten Film. Sie spielt darin eine sozial engagierte Anwältin

Es ist der letzte Film mit Jennifer Nitsch. Der kurze Frauenname im Titel – Judith Kemp, das klingt wie Bella Block oder Rosa Roth – weist auf eine kommende starke Serienfrau. Nicht Polizistin. Aber Anwältin. Doch die Anwältin Judith Kemp wird es nur dieses eine Mal geben, am Freitag in der ARD. Gedreht wurde im März und April dieses Jahres in Berlin. Am 13. Juni stürzte Jennifer Nitsch aus dem Fenster ihrer Münchner Wohnung. Sie hatte 3,1 Promille Alkohol im Blut. Selbstmord? Unfall? Ein Selbstmordunfall wohl. „Judith Kemp“ ist Nitschs letzter Film.

Es ist der kongeniale Film zu Hartz IV. Dass wir zwar scheinbar alle zusammen in einer Gesellschaft, aber doch auf ganz verschiedenen Planeten leben, deren äußere Umlaufbahnen sich meist nicht einmal berühren – jeder weiß es. Normalerweise würde die Anwältin Kemp der „Versagerin“ Helena Traber nie begegnen. Anderes Sonnensystem.

Die erfolgreiche Anwältin Kemp (Jennifer Nitsch) setzt ihren Wohlstands-Kindern einen Frühstücksbrei vor, zubereitet nach den ernährungsphysiologischen Erkenntnissen aller chinesischen Jahrtausende. Die Kinder sind trotzdem der Meinung: Sollen die Chinesen das doch selber essen. Auf dem Weg ins Büro findet die Anwältin an einer Straßenecke ein kleines Mädchen bewusstlos neben seinen Spielsachen liegen. Wahrscheinlich ohne Frühstück losgegangen. O Gott, Fernsehen!, denkt man. Geht das nicht ein wenig feiner? Nicht gleich mit dem dicksten Holzhammer. Geht es nicht.

Dieser Film hat die Atemlosigkeit der meisten Fernsehfilme, seine Überdeutlichkeiten, seine Unfähigkeit, frei zu schwingen. Aber es ist Unsinn, dem Fernsehen das immerzu vorzuhalten. Denn was es hier zeigt, ist trotzdem keine Konfektionsware.

Natürlich wird das kleine Mädchen bald zum Leben der erfolgreichen Wirtschaftsanwältin gehören. Und deren Mutter auch. Und deren beide Geschwister. Es hätte Sozialkitsch werden können. Reiche Anwältin adoptiert arme Familie. Aber Regisseur Helmut Metzger passt gut auf: Nicht schlecht, dass die beiden Frauen, die Erfolgreiche und die „Versagerin“, sich so ähnlich sehen. Nur sind Helena Trabers (Gesine Crukowski) Züge härter. Trotzdem, sie könnten Geschwister sein. Und wie schnell man von einer Welt in die andere rutscht, deutet der Film auch an. Und plötzlich sind alle Türen zu. Das bewahrt „Judith Kemp“ vor der Trivialität.

Das Bewusstein, zuletzt einen schlechten Film gemacht zu haben, kann Jennifer Nitsch nicht erdrückt haben. Mit Verführerinnen ist sie berühmt geworden („Nur eine kleine Affäre“, „Der Schattenmann“). Man hat die „deutsche Sharon Stone“ in ihr gesehen. Dabei war sie nur ungefähr genauso blond. Aber diese angeraute Kühlschrankstimme! Passt auch gut zu einer Juristin. Ein paar Eiswürfel mehr, ein etwas anders sich schließender, ein etwas anders sich öffnender Blick. Mehr paragrafenförmig.

Und natürlich sind auch die Schönen und Reichen nicht ohne Sorgen: Judith Kemps Mann ist tot (Unfall), und die eigenen Kinder machen es ihr auch nicht leichter: „Früher, als Papa noch da war, war alles anders.“ So beginnen Sätze, an deren Ende man eigentlich gar nichts mehr sagen kann. Metzgers Film dringt vor in die Bereiche, wo nach einem Satz nicht unbedingt gleich der nächste kommt, wie unser Kommunikations- Weltbild suggeriert. „Judith Kemp“ zeigt die Hermetik von Welten und die Unmöglichkeit, aus ihnen auszubrechen. Die „Versager“-Mutter Helena Traber arbeitet heute schon so vorbildlich, wie es bald alle tun sollen: drei miserabel bezahlte Putzjobs übereinander. Kann schon sein, dass eines der Kinder nachts auf dem Spielplatz gefunden wird – die Mutter hat Nachtschicht. Sollte man einer Frau, deren kleine Kinder sich nachts auf Spielplätzen aufhalten, nicht das Sorgerecht wegnehmen? Das Dasein als einzige Überforderung, vierundzwanzig Stunden täglich.

Es sei denn, es kommt eine, die im wirklichen Leben nie kommt. Judith Kemp, eine Robina Hood. Sie ficht mit Paragrafen und gewinnt immer. Dass es nicht lächerlich wird, liegt auch an der bleibenden Distanz zwischen beiden Frauen. Soll diese Verliererin etwa dankbar sein, nur weil sie arm ist? Im Gegenteil, undankbar ist sie. Das ist Realismus. Und solche Nebenrollen wie Dieter Mann als Richter erden den ganzen Film: Echte Hilfe ist kein karitativer Akt. Man fühlt sich nicht besser danach. Es verändert die Existenz – so wie die Wirtschaftsanwältin Kemp nun Familienanwältin wird.

Jennifer Nitsch hatte sich den Grimme-Preis erspielt, sie war dort, wo man die kolossalen Abhängigkeiten dieses Berufs („Warum besetzen sie andere, wenn sie auch mich haben können?“) fast nicht mehr spürte. Eine Zeit lang glaubte sie an eine große internationale Karriere. Das ist nichts geworden. „Judith Kemp“ war für Jennifer Nitsch gemacht. Vielleicht war ihr das doch zu wenig. Und sie war in dem Alter, wo aus großen Verführerinnen Anwältinnen werden.

„Judith Kemp“: Freitag, 10. September, ARD, 20 Uhr 15

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