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Wenn Irene Striesow (Katharina Marie Schubert) hinterm Steuer Platz genommen hat, dann wird ihren Kindern Wasa (Leonie Brill, l.) und Flori (Tamino Wecker) angst und bang.

© BR

Bonbonbunter TV-Film: Rollis und Russenwitze

Irene Striesow ist eigentlich eine Zumutung - doch aus Sicht ihrer Kinder ist sie die zauberhafteste Mutter der Welt. In ihrem Film „Friedliche Zeiten“ erzählt Birgit Vanderbeke von einer Kindheit in den 60ern.

Sie ist elfenzart und ziemlich verstört, hektisch und nervös, nervig und neurotisch. Hat Panik vor dem Einfall russischer Panzer im Westen und vor westdeutschen Bazillen im Badezimmer, verrammelt die Wohnung gegen Einbrecher und andere Fremdeinflüsse, terrorisiert Ehemann und Kinder mit nächtlichen Back- und Haarwasch-Aktionen. Und sie fährt schlechter Auto, als die Polizei erlaubt, kaum eine Tour, die nicht mit Beule oder Blechschaden endet. „Ich fahre volltrunken besser Auto als du nüchtern“, stöhnt ihr Ehemann. Ihre Entgegnung: „Ich werde ohnehin nicht alt.“

Irene Striesow (ätherisch: Katharina Marie Schubert) ist eigentlich eine Zumutung. Eigentlich. Doch aus Sicht ihrer Kinder ist sie die zauberhafteste Mutter der Welt, die man nach Kräften beschützen muss. Da wird schnell weggeschaltet, wenn im Fernsehen Bilder eines Vietnameinsatzes auftauchen, die Mutter hat ja Angst vorm Krieg, die Geschwister verabreden nächtliche Kontrollgänge, um Irenes Pillenkonsum zu überwachen, und notfalls fällt man der Mutter ins Steuer, sollte die versuchen, das Familienauto in die Donau zu lenken.

Keine leichte Jugend. Die Autorin Birgit Vanderbeke hat sie in ihrem Roman „Friedliche Zeiten“ geschildert. Und Regisseurin Neele Leana Vollmar, die danach mit der Jan-Weiler-Verfilmung „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ ganz groß durchgestartet ist, hat den Vanderbeke-Roman 2008 verfilmt. Als bonbonbunte Hommage an eine Zeit, die man eigentlich als piefig und kleingeistig in Erinnerung hatte: 60er Jahre, Reihenhausidylle und Wirtschaftswunder – Szenen- und Kostümbild feiern in „Friedliche Zeiten“ wahre Ausstattungsorgien, mit Rollis und Faltenröcken, Blümchentapeten und Wasserwellen. Erzählt ist das konsequent aus der unbefangenen Sicht der Kinder. Da kann dann ein Kinobesuch bei „Doktor Schiwago“ wichtiger sein als der Einmarsch der Panzer in Prag, und vielleicht hilft es ja, wenn man einen Brief an Breschnew schreibt, und alles wird gut.

Es ist 1968, und die Familie Striesow hat nicht nur mit der depressiven Mutter zu kämpfen, sondern ganz allgemein mit der Anpassung im Westen. Vor acht Jahren war man Hals über Kopf aus der DDR geflohen und schließlich in Bayern gelandet. Während Vater Dieter (Oliver Stokowski) sich mit Kumpel Karl (großartig: Axel Prahl) und gelegentlichen Seitensprüngen ganz gut arrangiert hat und höchstens noch von einer Reise nach Amerika träumt, sehnt Mutter Irene sich mit allen Fasern ihres Wesens zurück in die DDR, dorthin, wo alle gleich und alle glücklich waren. Und vor allem die beiden Schwestern Ute und Wasa (großartig: Nina Monka und Leonie Brill) kämpfen mit dem Anderssein. Damit, dass die Schulkameraden sie mit Russenwitzen nerven. Damit, dass es nicht genügt, auf dem Weg zur Schule schnell die Kniestrümpfe herunter- und den Rock hochzuziehen, um so auszusehen wie alle anderen. Und damit, dass Kaugummi und amerikanische Musik zu Hause verpönt sind, imperialistisches Kulturgut. „Warum gehören wir nie dazu?“ – wie viel Kinderleid kann in solcher Ausgrenzung liegen. Erst als Wasa am Ende selbstbewusst vor der Klasse die Internationale schmettert, hat sie sich mit der Welt versöhnt.

Schon „Urlaub vom Leben“, Neele Leana Vollmars Abschlussfilm an der Filmakademie Ludwigsburg, erzählte davon, wie man mit Lebenslügen und Lebensängsten leben kann. „Friedliche Zeiten“ zeigt, wie man sie überwindet. Danach sieht die Welt noch einmal so bunt aus.

„Friedliche Zeiten“, ARD, 20 Uhr 15

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