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Medien: Brasilianische Manndeckung

Allein Rios Zeitung „O Globo“ schickt 29 Reporter zur WM nach Deutschland. Ein Redaktionsbesuch

„Ich bin eine Fußball-Journalist …“. Ary Cunha muss einen Moment überlegen, um den Satz zu beenden. Dann holpert es: „…von eine brasilianische Zeitung.“ Der 32-jährige Sportreporter sitzt an einem winzigen Schreibtisch in der hektischen und fensterlosen Großraumredaktion der brasilianischen Tageszeitung „O Globo“ in Rio de Janeiro. Drei Wochen lang hat er zweimal in der Woche Deutsch gepaukt: Wie stellt man sich vor, wie bestellt man ein Bier, wie fragt man nach dem Weg ins Stadion? Eine Lehrerin des Goethe-Instituts ist dazu extra ins Redaktionsgebäude gekommen, der Verlag hat den Sprachunterricht plus Länderkunde bezahlt. In ein paar Tagen wird Cunha in den Flieger nach Deutschland steigen, um für „O Globo“ über die Fußball-WM zu berichten. Und mit ihm wird der größte Berichterstatterstab reisen, den die Zeitung je zu einer WM gesandt hat.

29 Journalisten, Kolumnisten, Onlinereporter, Fotografen und sogar Schriftsteller haben einen Monat lang Deutschland gebucht, außerdem hat „O Globo“ eine Korrespondentin in Berlin. Keine Bewegung der brasilianischen Teams auf dem Rasen und im Mannschaftsquartier soll ihnen entgehen. Ob Trainer Pereira mal wieder miesepetrig ist, Ronaldo Übergewicht hat oder Ronaldinho eine Sekunde lang vergisst zu lächeln: Die „O-Globo“Leser sollen es erfahren. Einige der Journalisten sind sogar auf bestimmte Spieler angesetzt, deren Verhalten und Form sie genau beobachten müssen. Ebenso werden die Gegner der Seleçao – der Auswahl, wie das brasilianische Team hier heißt – unter die Lupe genommen.

Ary Cunha soll zunächst die kroatische Mannschaft in Bad Brückenau observieren. Nach dem Spiel wird er sich dann einen der potenziellen brasilianischen Gegner im Achtelfinale vorknöpfen. „Wir wollen ganz nah dran sein“, sagt Cunha, dessen Zeitung mit einer Auflage von rund 300000 die drittgrößte Brasiliens ist.

Bei den beiden anderen brasilianischen Qualitätsblättern, „O Estado de S. Paulo“ und „Folha do S. Paulo“, sieht es nicht anders aus. Auch sie schicken rund 30 Journalisten für einen Monat nach Deutschland. Teilweise sind sie schon seit Wochen in Deutschland und berichten über das Vorbereitungsfieber. Sie verfolgten die letzten Bundesligapartien mit brasilianischer Beteiligung. Dann diskutierten sie den Zustand des Frankfurter Stadions, durch dessen Dach es vergangenen Sommer beim Confederations-Cup-Finale Brasilien gegen Argentinien regnete. Jetzt sind sie im schweizerischen Weggis, wo sich das brasilianische Team vorbereitet. Von den rund 700 dort anwesenden Reportern kommt mehr als die Hälfte aus Brasilien. Und nicht nur bei „O Globo“ schaffen es die Nachrichten aus der Schweiz täglich auf die Titelseite. Auch im Fernsehen erfährt man in den Hauptnachrichten, wie das Wetter in Weggis ist. Oder dass Ronaldinho von einem Fan, der das Spielfeld stürmte, umarmt wurde.

Die Medien in Brasilien widmen sich solchen Fragen mit einer Ausführlich- und Ernsthaftigkeit, die manchen deutschen Journalisten schmunzeln lassen würde. „Aber die Leser wünschen das“, erklärt „Globo“-Sportredaktionsleiter Antonio Nascimento und entfaltet eine Deutschlandkarte, in die er die Aufenthaltsorte seiner Reporter mit einem Kugelschreiber schwarz umkreist hat. Er selbst wird in Rio bleiben und die Sonderseiten koordinieren, „Blatt machen“, wie es im Journalistenjargon heißt. „Deshalb bin ich natürlich ein bisschen traurig“, sagt er. „Die WM ist das einzige internationale Ereignis, bei dem Brasilien die Hauptrolle spielt. Das spiegelt sich in den Medien wider. Die Fußballseiten von ,Globo’ sind aber auch ohne WM die meistgelesenen. „Wenn wir auch nur einen Tag nicht über eines der vier Teams berichten würden, die es in Rio gibt, würden die Leser einen Aufstand machen.“

16 WM-Sonderseiten wird die Zeitung ab dem 4. Juni täglich produzieren, also schon knapp eine Woche vor Beginn der WM und neun Tage vor dem ersten Spiel der Brasilianer. Als „mehr als komplett“ preist „O Globo“, die zum mächtigen gleichnamigen Medienkonzern gehört, ihre Berichterstattung bereits jetzt in Anzeigen. Die Kosten für den Aufwand sind längst reingeholt, die Werbung auf den Sonderseiten ist verkauft. Ein frühes Ausscheiden der Brasilianer wäre daher eine Katastrophe. Auch für die Journalisten, die sich auf mehr als einen Monat Arbeit eingestellt haben.

Ary Cunha freut sich drauf, „vor allem weil uns brasilianischen Journalisten bei einer WM das besondere Interesse der anderen Journalisten gilt. Wir werden in gewisser Weise mit der Seleçao identifiziert.“ Auch dass die brasilianischen Journalisten in Deutschland einen Zeitvorsprung von fünf Stunden haben, zählt er zu den angenehmen Seiten dieser WM. Bei „O Globo“ ist gegen 23 Uhr Redaktionsschluss.

Für Antonio Maria Filho bedeutet die Reise nach Deutschland ein Wiedersehen. Schon bei der WM 1974 war der Reporter in der Bundesrepublik. Seitdem hat er über alle Weltmeisterschaften berichtet. Die Aufnahme ins Reporterteam ist für den 59-Jährigen trotzdem immer wieder so, als ob man selbst ins Nationalteam berufen würde. „Es gibt für einen brasilianischen Sportjournalisten nichts Größeres.“ Auf die Frage, wer die WM gewinnen wird, antworten alle Journalisten, die man hier fragt: „Brasil“. „Die Mannschaft war bei den letzten drei Finalen dabei. Warum soll das jetzt anders sein?“, fragt Nascimento für einen Journalisten recht unkritisch. „Wir Journalisten sind halt auch nicht ganz frei vom Favoritismo“, rechtfertigt er sich. Als „Favoritismo“ bezeichnet man in Brasilien die Favoritenrolle der Mannschaft, die viele schon als die größte Last identifiziert haben. Da aber ohnehin niemand damit rechnet, dass Brasilien vor dem Finale ausscheidet, hat man bei „O Globo“ alle Rückflüge erst für die Tage nach dem Endspiel gebucht.

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