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Jedem sein Päckchen. Für Florian beginnt der Ernst des Lebens mit fünf. Foto: NDR

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Das wahre Dschungelcamp: Wo Leben eine Qual ist

„Deutschland unter Druck“, ein dreiteiliger ARD-Report über gestresste Kinder, Erwachsene, Senioren.

Als der Gesellschaftskritiker Neil Postman das „Verschwinden der Kindheit“ beklagte, galt sein Vorwurf vor allem dem Fernsehen, weil es Kinder viel zu früh mit den Problemen der Erwachsenenwelt behellige. Damals konnte der Medienwissenschaftler nicht ahnen, dass alles noch viel schlimmer kommen würde: Kinder führen längst auch ohne Fernsehen das Leben eines Erwachsenen. Der Druck beginnt schon im Kindergarten und er endet erst mit dem Tod. Zumindest ist dies das Bild, das die ARD-Reihe „Deutschland unter Druck“ entwirft. Der heutige Auftakt beschreibt die Kindheit, der zweite Teil das von Konkurrenzkampf und Existenzängsten geprägte Arbeitsleben, der dritte einen Lebensabend, in dem allein die Wohlhabenden einen ungetrübten Ruhestand genießen können.

Bei aller Anerkennung für den NDR und das Erste, dieses wichtige Thema so ausführlich zu behandeln: Die Autoren tappen in die selbe Falle, die sie doch so wort- und faktenreich analysieren. Gerade der erste Film („Die überforderten Kinder“, Autoren: Grit Fischer und Timo Großpietsch) arbeitet mit einer völlig unnötigen Plakativität. Immer wieder werden Botschaften in Stein gemeißelt: „Permanenter Druck und Angst vor der Schule“, „Fit für den Konkurrenzkampf“, „Kein Platz mehr für Träume“, „Nur die Leistung zählt“, „Jeder will der Beste sein“. Behauptung folgt auf Behauptung.

Die Schülerinnen und Schüler kommen zwar auch zu Wort, aber meistens erzählt der Sprecher, was sie denken und fühlen. Das ist ärgerlich, weil die Jugendlichen durchaus nicht den Eindruck machen, als könnten sie ihre Probleme nicht selbst artikulieren. Doch das Stilmittel hat Methode, die beiden weiteren Filme funktionieren genauso. Der Dreiteiler wirkt wie ein „Spiegel“-Titelthema: Fakten vermitteln Hintergrundinformation, Doku-Soapähnliche Beschreibungen konkreter Lebensumstände sorgen für Atmosphäre, Zitate prominenter Zeitgenossen (hier: Margot Käßmann) liefern etwas Glamour. Aber ein TV-Dreiteiler ist kein Printbericht, zumal der schnoddrig gesprochene Kommentar inhaltlich und akustisch eine Herausforderung darstellt.

Davon abgesehen bietet der Film über den Kindheitsstress eine angemessene Zustandsbeschreibung, wenn auch nur eines gesellschaftlichen Teilbereichs. Eltern, die sich die frühkindliche Förderung tausend Euro im Monat kosten lassen und den Nachwuchs später auf teure Privatschulen schicken: Das kann sich nur die Elite leisten. Die durchschnittliche Gymnasiastin wird durch zwei Schülerinnen repräsentiert, denen das „Turboabitur“ jede Freizeit raubt. Einem der Mädchen graut vor der Abi-Note 3,0. Man mag sich gar nicht ausmalen, welch finsteres Schicksal jenen droht, denen eine höhere Schulbildung von vornherein versagt bleibt. Die Reportage gefällt sich ohnehin in Schwarzmalerei. Alternativen zum permanenten Druck werden ebenso ausgespart wie ein Blick in Länder, die beim Leistungsnachweis mit weniger Stress bessere Resultate erzielen. Tilmann P. Gangloff

„Deutschland unter Druck: Die überfordeten Kinder“, 21 Uhr, ARD

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