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Süß oder sauer? Deutschland gilt als kinderfeindlich. Vielleicht nur ein Klischee. Foto: HR

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TV-Dokumentation: Die Deutschen sterben aus

Ein „Kinderreport“ im Ersten kümmert sich um die Nachwuchssorgen im Wohlstandsland. Und um Kinderfeindlichkeit, die vielleicht nur ein Klischee ist.

Wenn man Statistiken verfilmen will, muss man sie unbedingt mit Leben füllen. Beim Thema Kinder heißt das: Man sucht nach Menschen, deren Alltagsumstände die Zahlen widerspiegeln. Aber natürlich sollen auch Experten zu Wort kommen. Und dann muss das Zahlenmaterial auch noch irgendwie untergebracht werden. Hat man aber nur 45 Minuten Zeit, ist es eigentlich unausweichlich, dass ein Film über den demografischen Wandel furchtbar zerredet, optisch völlig uninteressant und mit Daten hoffnungslos überfrachtet wird.

„Der Kinderreport“ ist ein Beitrag zur Reihe „Die Story im Ersten“. Ulrike Gehring befasst sich mit der Frage, wie das Land damit umgeht, dass immer weniger Kinder geboren werden. Ein Thema also, das wirklich jeden betrifft, junge Eltern ebenso wie zukünftige Rentenempfänger; ein Thema auch, bei dem man sein Publikum mit Zahlen regelrecht erschlagen kann, und vor allem ein Thema, das ähnlich wenig Anlass zur Hoffnung gibt wie der Klimawandel.

Die Autorin sah sich also mit zwei Herausforderungen konfrontiert: Wie geht man die Sache an, ohne Endzeitstimmung zu verbreiten? Und wie schafft man es, viele Fakten zu vermitteln, trotzdem nicht so trocken wie eine adaptierte Informationsbroschüre und sogar unterhaltsam zu sein? Es ist im Grunde die Quadratur des Kreises, aber Ulrike Gehring ist all das gelungen. Dem Film ist zwar anzusehen, dass sie sich diese Gedanken gleichfalls gemacht hat, aber dennoch wirkt er nicht bemüht, im Gegenteil. Gerade die Optik ist ausgesprochen einfallsreich. Als Kapiteltrenner fungieren Zwischenspiele im Zeitraffer, die Großstadtimpressionen wie Aufnahmen aus einem Spielzeugland aussehen lassen. Originell ist auch die Idee, für den „Report“ tatsächlich auf Papier zurückzugreifen. Dramaturgisch orientiert sich der Film an diversen Vorurteilen, die wie Thesen behandelt und als Zeitungsschlagzeile präsentiert werden („Deutschland stirbt aus“). Gesprächspartner werden ganz ähnlich vorgestellt: Ihr Name steht ganz oben auf der Seite, ihre Funktion ist wie mit einem Textmarker hervorgehoben. Auch die Statistiken werden als Zeitungsgrafiken präsentiert.

Wenn Gehrings kurzweilige und ungemein informative Arbeit einen Haken hat, dann ist es der Facettenreichtum des Films. Sie hat für alle möglichen Aspekte Menschen gefunden, die als alleinerziehende oder als kinderreiche Eltern von ihren Sorgen und Nöten erzählen, und für jeden Bereich gibt es unterschiedlichste (und ausgezeichnet ausgewählte) Experten, die soziologische oder ökonomische Sichtweisen beisteuern. Aber weil die Autorin offenbar das komplette Spektrum abdecken und auch Randaspekte wie Helikoptereltern und Hochbegabtenförderung abdecken wollte, braust der Film mitunter etwas atemlos durchs Kinderzimmer.

Davon abgesehen ist es erfrischend, wie überzeugend der Film mit allen möglichen Vorurteilen aufräumt. Mitunter genügt ein schlichter Blick über den Tellerrand, um die Dinge zurechtzurücken und zum Beispiel zu belegen, dass Deutschland keineswegs so kinderfeindlich ist, wie gern behauptet wird. Natürlich ist Gehring nicht so vermessen, einer These wie „Kinder sind Karrierekiller“ nicht stur die Antithese gegenüberzustellen, aber sie sorgt für differenzierte Betrachtungsweisen: Nicht das Kind ist der Karrierekiller, sondern die Trägheit des Systems. Das größte Lob aber gebührt der Autorin, weil es ihr überzeugend gelingt, ihren Zuschauern nicht nur in dieser Hinsicht die Zukunftsangst zu nehmen.

„Der Kinderreport“, ARD, Montag, um 22 Uhr 50

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