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Medien: Zürich-Hongkong-Zürich

Immer mehr Websites mit 24-Stunden-News: Ein Schweizer Portal macht in China die Nacht zum Tag

Auf den ersten Blick wirkt alles normal. Es ist sechs Uhr früh, draußen geht die Sonne auf, Felix Burch trinkt einen Kaffee, setzt sich an den Schreibtisch und schaltet den Computer ein. Auf dem Bildschirm sieht er seine Kollegen, die per Skype zugeschaltet sind. Er redet kurz mit ihnen, verabschieden sich dann mit einem „macht’s guät“ – und seine Nachtschicht beginnt.

Felix Burch ist in Hongkong, seine Kollegen in Zürich. Während sie schlafen, schreibt er. Der 34-Jährige ist Redakteur bei der Website 20minuten.ch, dem Ableger der Schweizer Gratiszeitung „20 Minuten“. Seit Juli arbeitet die Online-Redaktion im 24-Stunden-Betrieb und bedient sich dafür eines außergewöhnlichen Modells: Statt Mitarbeiter zu engagieren, die die Seite nachts von Zürich aus betreuen, werden die Redakteure für sechs Wochen nach Hongkong geschickt und übernehmen von hier aus die Nachtschicht.

Im 20. Stock eines Wolkenkratzers hat die Redaktion ein kleines Appartement angemietet, für das sie auch die Kosten trägt. Durch die breite Fensterfront der Wohnung ist das Wolkenkratzermeer Hongkongs zu sehen, davor wurde der Arbeitsplatz eingerichtet. Zur Ausstattung gehören ein Computer, zwei Bildschirme, ein Fernseher und ein iPad. Das Bett steht gleich nebenan, mit einer Schiebetür kann der Raum geteilt werden.

Geschickt nutzt 20minuten.ch den Zeitunterschied zur chinesischen Metropole. Sechs Stunden voraus ist Hongkong im Vergleich zur Schweiz, im Winter beträgt der Unterschied sieben Stunden. Die Redaktion ist so organisiert, dass es keinen Leerlauf gibt: Bis Mitternacht ist das Büro in Zürich besetzt, kurz vor Dienstschluss skypen die Redakteure Burch in Hongkong an und besprechen mit ihm, welche Themen nachts bearbeitet werden sollen. An diesem Tag schreibt er unter anderem ein Stück über das Unwetter, das am Abend über die Schweiz hinweggefegt ist. Leserreporter haben Fotos gemailt, Burch stellt eine Bilderstrecke von den dicksten Hagelkörnern zusammen. Bis ein Uhr mittags arbeitet er, eine Stunde vorher skypt er die Kollegen in Zürich an, die um sechs Uhr mit der Frühschicht starten. „Während sie ihren ersten Kaffee trinken, gehe ich eine Nudelsuppe essen und dann auf Erkundungstour durch die Stadt“, sagt Burch. Nach sechs Wochen übernimmt dann der nächste Kollege das Büro.

Wohl selten zuvor war eine Nachtschicht so beliebt wie die bei der Schweizer Website. „Bis 2013 haben wir schon alle Wochen vergeben“, sagt Franz Ermel, stellvertretender Redaktionsleiter von 20minuten.ch.

Was für die Redakteure eine spannende Abwechslung vom Arbeitsalltag bedeutet, ist für den Verlag ein lohnenswertes Modell. „Die Leser bekommen nicht nur die ganze Nacht neue Artikel zu lesen, sondern finden vor allem gleich früh am Morgen eine aktualisierte Website mit den neuesten Nachrichten vor“, sagt Ermel. Das sei ein Wettbewerbsvorteil im Vergleich zu anderen Websites, die um sechs Uhr mit dem Umbau der Seite beginnen und erst gegen sieben Uhr eine aktualisierte Website präsentieren würden.

Die Mitarbeiter für sechs Wochen aus Hongkong arbeiten zu lassen, kostet nach Ermels Schätzung nur geringfügig mehr, als wenn Redakteure extra für die Nachtschicht eingestellt werden müssten. „Wir sparen die teuren Nachtzuschläge, die wir zahlen müssten, wenn die Seite von der Schweiz aus betreut würde. Vor allem können wir in Hongkong erfahrene Redakteure einsetzen, die mit unserer Technik und unseren Ansprüchen schon vertraut sind“, sagt Franz Ermel.

Auch in Deutschland gibt es immer mehr Nachrichtenwebsites, die ihre Redaktionen rund um die Uhr besetzen. Herausgefordert wird dies durch die immer stärkere Verbreitung mobiler Geräte wie Smartphones und Tablet-PCs. Wurden die Nachrichtenportale früher vor allem besucht, wenn die Leute morgens ins Büro kamen, mittags Pause machten oder sich kurz vor Feierabend noch mal über den neuesten Stand informierten, werden die Seiten jetzt auch frühmorgens und spätabends intensiv gelesen. Doch wollen die Nutzer nach dem Aufwachen nicht die gleichen Texte auf ihrem Handy oder Minicomputer sehen, die sie noch kurz vorm Einschlafen gelesen haben.

Allerdings stehen Portale, die 24 Stunden lang an sieben Tagen in der Woche aktuelle Stücke liefern wollen, vor einem Problem: „Es ist schwer, Mitarbeiter zu finden, die qualifiziert und gleichzeitig bereit sind, regelmäßig nachts zu arbeiten“, sagt Focus-Online-Chefredakteur Daniel Steil. Er testet gerade einige „Nachtschwestern und -pfleger“ für die Seite. Bisher ist die Redaktion von morgens um sechs bis Mitternacht besetzt. Bis Ende des Jahres will er zumindest unter der Woche eine Dauerpräsenz am Newsdesk etablieren. Zwar werde die Seite nachts zwischen ein Uhr und morgens um fünf Uhr weniger stark genutzt, doch möchte Steil konsequent einen 24-Stunden-Service bieten. „Nachts können die Mitarbeiter einiges wegschaffen und wir starten schon früh am Morgen mit einer breiteren News- und Hintergrund-Palette“, sagt Daniel Steil.

Tagesspiegel.de ist zwar nicht rund um die Uhr besetzt, doch bei Großereignissen wie zuletzt der Berlin-Wahl wird die Seite bis in die Nacht aktualisiert.

Handelsblatt.com ist seit April im 24/7-Betrieb. Wie bei 20minuten.ch arbeitet die Nachtschicht nicht vom Hauptsitz der Redaktion in Düsseldorf aus, sondern das New Yorker Büro wurde um vier freie Mitarbeiter verstärkt. Der Zeitunterschied in die USA ist allerdings nicht so günstig wie nach Asien, denn die amerikanische Metropole ist in der Zeit sechs Stunden zurück. Um Mitternacht deutscher Zeit ist es dort sechs Uhr abends – viel Neues passiert um diese Zeit selbst in New York nicht mehr.

Auch Welt Online und Bild.de haben rund um die Uhr ihre Redaktionen besetzt, in der Regel hält aber nur ein Mitarbeiter die Stellung. Bei Stern.de liefert der automatische Nachrichtenticker aktuelle Meldungen rund um die Uhr, die Redaktion selbst ist nur von sechs Uhr bis 23 Uhr besetzt. „Bei wichtigen Ereignissen gibt es aber einen Bereitschaftdienst, der eingreift. Und in Fällen wie Fukushima arbeiten wir natürlich rund um die Uhr“, sagt Stern.de-Chefredakteur Frank Thomsen. Zwar sei eine 24-Stunden-Redaktion auch für Stern.de wünschenswert, habe aber derzeit nicht oberste Priorität. „Denn User schlafen noch nicht weniger, weil sie mehr Endgeräte haben – bis auf die unhappy few, die nicht schlafen können“, sagt Thomsen.

Felix Burch ist inzwischen wieder zurück in der Schweiz, gerne wäre er länger in Hongkong geblieben, so gut hat es ihm gefallen. Doch der nächste Kollege ist schon drüben und wird um Mitternacht mit einem „guäti Schicht“ in den Tag entlassen.

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