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Von draußen droht Gefahr - darin sind sich die Regierungschefs von Ungarn und Polen, Viktor Orbán (links) und Mateusz Morawiecki, einig.

© Tamas Kovacs/AP-dpa

Antiliberalismus in der EU: Orbán zerstört Europa

Binnenmarktpolitik ist wichtig, aber Demokratie? Die EU muss sie endlich auf eigenem Boden schützen, auch mit neuen Mitteln. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Das Muster ist stets dasselbe: Wenn es im eigenen Land zivile Opposition gibt, dann kann nur das Ausland dahinterstecken. So geschehen in Russland, wo sich Nichtregierungsorganisationen als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen. So praktiziert in Ägypten, als das bereits moribunde Mubarak-Regime gegen Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung vorging – das aktuelle Regime hat diese Politik fortgesetzt. Und so geschehen in China, wo Stiftungen von außerhalb neuerdings der Aufsicht des Sicherheitsministeriums unterstellt sind.

Demokratie heißt nicht Durchregieren der Mehrheit

Alles weit weg? In Ungarn lässt die regierende Fidesz-Partei seit Dienstag ein Gesetz im Parlament verhandeln, das sich ganz offen gegen den US-Philantropen und Milliardär George Soros richtet, einen gebürtigen Ungarn und Holocaust-Überlebenden. Das „Anti-Soros-Paket“ soll, unter anderem, von ihm finanzierte Initiativen knebeln helfen, die Flüchtlinge in Ungarn unterstützen.

Ungarns Premier Viktor Orbán weiß natürlich, in welch undemokratische Gesellschaft er sich erneut bringt. Und er wird es genießen. Schließlich hat er die Zeit des westlichen Liberalismus für abgelaufen erklärt und dessen „Opfern“ sarkastisch Asyl in Ungarn versprochen – als einzigen, versteht sich. Das Wort liberal benutzte er schon in seiner berüchtigten Rede von 2014 nur noch abwertend, Demokratie davon abgelöst, als Herrschaft der Mehrheit, in der die Unterlegenen nichts mehr zu melden haben.

Ungarn wurde 2004 Mitglied der Europäischen Union, als eines der ersten Länder des früheren Ostblocks. Wenn dort antidemokratisch regiert wird – und nichts anderes ist die Reduktion der Demokratie auf das Durchregieren der Mehrheit –, ist das eine innere Angelegenheit Europas. Und die sollte eine Wertegemeinschaft, als die sich die Europäische Union versteht, ernst nehmen, gerade jetzt, zwei Jahre nach dem Fluchtjahr 2015.

Auch Deutschland ist nicht immun

Orbáns Gesetze sind nicht nur – was schlimm genug wäre – ein neuer Versuch, jeden gesellschaftlichen Dissens zu ersticken. Sie sind überdies auch besonders bösartig: Ziel sind die Fremden, die man nicht im Land haben will, aber auch die, die ihnen helfen, die Feinde im eigenen Land. Und Ziel ist Soros, der Ausländer, der Emigrant – was rechts noch stets als Verrat gilt – und natürlich "der Jude".

Alle klassischen Erzählstränge des Menschenhasses von rechts sind da verknotet, Orbáns Projekt ist fast ein Lehrbuchfall jener fürchterlich innigen Verbindung von Demokratieabbau mit einem Fremdstempeln von Ideen und Menschen, die nicht die herrschenden sind. Wenn die EU dies zulässt, kappt sie die eigenen Wurzeln als übernationales Projekt und hilft mit, dass dieses Gedankengut auf dem Kontinent normal und zunehmend Regierungspolitik wird. In Polen regiert die toxische Mischung aus Fremdenangst und -hass mit Verfassungsrückbau bereits, aber der alte Westen der EU hat wenig Grund zu Selbstzufriedenheit. Hier in der Bundesrepublik, wo wir uns lange immun glaubten gegen autoritäre Versuchungen, sitzen erstmals Rechtsradikale im Parlament. Was tun in wenigen Jahren, sollte die dritte Groko die SPD unter die Wahrnehmungsgrenze drücken und sie sogar als Juniorpartnerin ausfallen? Dann ist eine Rechtskoalition, die konservative Revolution, mit der sie in Bayern bereits flirten, nicht mehr nur graue Theorie. Doch das scheint für den SPD-Mitgliederentscheid weniger auf den Schirmen zu sein als die Frage, ob der Koalitionsvertrag ausreichend sozialdemokratisch ist.

Die Freiheit braucht ein ganzes Netz von Hilfen

Gut, dass ein paar Köpfe in Europa sich größere Sorgen machen. Der Luxemburger Jean Asselborn hat im Tagesspiegel gerade wieder dazu aufgerufen, den EU-Vertrag gegen Ungarn zu nutzen. Die Heinrich-Böll-Stiftung schlug am Dienstag ein ganzes Netz vor, um Europas Demokratie zu sichern: Konsequent die Verträge anzuwenden, ist nur einer der Knoten darin, der andere ist Hilfe für bedrohte nationale Zivilgesellschaften. Am wichtigsten vielleicht: ein System regelmäßiger Beobachtung der Demokratie in Europa und dies als Aufgabe der Staats- und Regierungschefs.

Das wäre ein notwendiger Kulturwechsel: Europas Demokratie als mindestens so wichtiges Politikfeld zu erkennen wie Binnenmarkt und Regionalförderung. Ihre Gefährdung anzuerkennen und sich für sie einzusetzen. Das alte Europa hat sich zu lange eingebildet, zwei Kriege hätten es gegen die autoritäre Gefahr immunisiert. Primo Levi, ein anderer Überlebender des Holocaust, wusste: „Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen.“

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