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Buchmesse: Bücher und Familienbande

Familie ist das Thema, das den Buchmarkt in diesem Jahr beherrscht. Nur warum? Vielleicht ist Familie "jener Mysterienraum, den man noch verstehen kann in einer globalisierten, pauschalisierten Welt - Horror und Halt zugleich", schreibt Rüdiger Schaper.

In seinen „Freibeuterschriften“ hat Pier Paolo Pasolini die Kleinfamilie als „kriminelle Vereinigung“ bezeichnet. Das wäre eine Erklärung für das Thema, das den Buchmarkt in diesem Jahr beherrscht. Funktionierende Familien interessieren nicht. Allein das Schmerzhafte, Kaputte will beschrieben sein. Deformation sagt mehr über den Charakter einer Gesellschaft als das Uniforme.
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, beginnt Tolstois „Anna Karenina“, eines der größten Bücher aller Zeiten – ein Roman über mehrere Familien. Das Sujet ist also nicht nur nicht neu, sondern so alt wie das Erzählen selbst. Doch gibt es immer wieder Phasen, in denen das Selbstverständliche, das Grundsätzliche mit Macht an die Oberfläche drängt.
Es ist jetzt eine solche Zeit für Familie. Quality time nennen das die Amerikaner. Ob Eugen Ruge, der mit dem Deutschen Buchpreis 2011 ausgezeichnet worden ist, oder Charlotte Roche, die mit ihren Bestsellern so manche trübe Wolke am Verlagshimmel wegbläst; ob Arno Geigers zutiefst anrührendes Buch über seinen demenzkranken Vater oder Oskar Roehlers autobiografischer Roman „Herkunft“ – die Familie steht bei all diesen Autoren im Mittelpunkt, sie ist der kreative Antrieb. Ohne sie hat der Mensch keine Vergangenheit, ist er ein Kaspar Hauser.
Die Frage nach dem Woher quält Walter Kohl, den Sohn, der so entsetzlich gelitten hat unter dem Kanzlervater. Warum kaufen und lesen Menschen solche Bücher? Eugen Ruge erzählt eine, seine Familiengeschichte von Sozialisten, von Utopisten, die bis in den Gulag reicht. Kohl junior berichtet aus einem Provinzidyll, das an Pasolinis Wort denken und jeden erschauern lässt, der eine wattierte westdeutsche Herkunft hat. Man findet in Büchern zu sich. Und aus sich heraus.

Nach dem Fall der Mauer wurde jahrelang auf den deutschen Roman gewartet. Nun haben wir viele Romane bekommen, gute Bücher, in denen Fakten und Fiktion zusammenfließen. Die Trennung von Belletristik und Sachbuch scheint passé. Aus sachlichen Romanen und erzählerischen Sachbüchern (von Alice Schwarzer zu Hans Neuenfels, vom Regietheater zur Frauenbewegung) lässt sich ein Bild zusammensetzen. Es ist das Bild eines Landes, das im Tolstoi’schen Sinne auf eine sehr eigene Weise unglücklich gewesen ist und nicht so recht verstehen kann, in welch glücklicher Lage es sich heute befindet, wenigstens wirtschaftlich. In Griechenland geht auch die Verlagsbranche in die Knie, in einem Land, das die Debatte erfunden hat – und das Familiendrama.
Ödipus war ein Patchwork-Mensch, er errichtete und verletzte ein Tabu, den Inzest. Heute geht es in der Literatur, die sich am Familiären abarbeitet, um die Erkundung dessen, was Familie noch ist und sein kann. Was aus ihr geworden ist nach sexuellen, ökonomischen Revolutionen. Die Familie, diese Gruppe von Menschen, die einem die Liebsten und womöglich die Schrecklichsten sind, ist etwas, was man verstehen muss, um zu leben. Vielleicht ist die Familie auch jener Mysterienraum, den man noch verstehen kann in einer globalisierten, pauschalisierten Welt, Horror und Halt zugleich.
Auch die Buchfamilie, die sich diese Woche wieder zum Ritual der Frankfurter Buchmesse trifft, ist ein Patchwork, mit E-Book, Kindle, iPad. Und wie jede Familie wird sie zusammengehalten und bedroht von Tradition, Ökonomie und Gefühlen. Selten hörte man so wenig Klagen. Es muss eine glückliche Familie sein.

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