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Meinung: Das späte Erinnern

In Argentinien und Chile wagt sich die Führung an die Vergangenheit der Diktatur – und verschafft den Ländern eine neue Identität

Das schlechte Gewissen ist hartnäckig, das zeigt sich jetzt in Argentinien und Chile. In der Rechtsprechung können die Verbrechen eines einzelnen verjähren und sogar amnestiert werden. Aber die staatlichen Verbrechen einer Diktatur, wie sie in beiden südamerikanischen Staaten stattgefunden haben, gehen über das rein Juristische hinaus: Sie spalten noch Jahre später die ganze Gesellschaft.

Die Menschen in Argentinien und Chile wissen das nur zu gut. Und die Mütter und Großmütter von der Plaza de Mayo in Buenos Aires, denen die Militärschergen ihre Angehörigen nahmen und die seit 25 Jahren gegen das erfolgte Unrecht demonstrieren, sind lebendiges Mahnmal geworden für die bis heute nicht erfolgte Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer. Jetzt können sie ihren bisher größten Erfolg feiern.

Die argentinischen Abgeordneten haben für die Abschaffung der Amnestiegesetze gestimmt, die noch immer jene schützen, die verantwortlich sind für Entführung, Folter, Mord und Vergewaltigung. Sollte in naher Zukunft tatsächlich das Oberste Gericht Argentiniens, das zurzeit neu besetzt wird, den zu erwartenden Verfassungsklagen Recht geben, hätte sich das wirtschaftlich so gebeutelte Land ein neues, ein demokratisches Fundament gegeben.

Ausgerechnet die Menschenrechte verhelfen damit dem neuen argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner zu einem ersten politischen Profil. Bei seiner Wahl galt er angesichts der Bankrott-Erklärung aller Parteien noch als Notlösung, nun grenzt er sich positiv von seine Vorgängern Alfonsin und Menem ab. Kirchners Beschäftigung mit der Diktatur mag vielen zwar als Ablenkung von den aktuellen wirtschaftlichen Problemen vorkommen. Einer Gesellschaft wie der argentinischen aber, die jeden Glauben an die Politik verloren hat und der die wirtschaftliche Krise allen Stolz genommen hat, kann die Aufarbeitung der Vergangenheit zu neuer Identität verhelfen. Die Bestrafung der Schergen kann also zu einem späten Aufbruchsignal werden – für alle Argentinier.

Auch in Chile wollte man die Pinochet-Diktatur, deren Beginn sich am 11. September zum 30. Mal jährt, vergessen oder wenigstens verdrängen. Der wirtschaftliche Erfolg vermochte lange Zeit die großen gesellschaftlichen Spannungen zu übertünchen. Aber auch hier bröckelt der Lack des Verdrängens. Spätestens die Festnahme Augusto Pinochets 1998 in Großbritannien und der weltweit für Aufsehen sorgende Versuch des spanischen Richters Baltasar Garzon, den Diktator anzuklagen, hat einen neuen Prozess im Land selbst eingeleitet. Im Gegensatz zu Argentinien sind es in Chile gleichwohl vor allem die Täter, die plötzlich beginnen, über die Vergangenheit zu reden. Generäle und Politiker der Pinochet-Nachfolgepartei UDI machen sich für die Entschädigung der Opfer stark – und die Vertreter der Menschenrechtsorganisationen reiben sich verwundert die Augen.

Nun wird die in Chile ohnehin stark politisierte Gesellschaft von einer neuen Diskussionswelle über die Diktatur erfasst. Anteil daran hat auch der amerikanische Außenminister Colin Powell, der im Februar offen aussprach, dass der Sturz von Präsident Salvador Allende im Jahr 1973 mit Hilfe des US-Geheimdienstes CIA „kein Teil amerikanischer Geschichte ist, auf den wir stolz sind“. Seitdem folgte kaum ein Tag ohne eine neue Enthüllung, ohne ein neues Geständnis oder eine neue Geste. Präsident Ricardo Lagos sinniert wenige Tage vor dem umstrittenen Jahrestag darüber, wie er einen neuen Gesetzesentwurf einbringen kann, der die Verurteilung der bisher rechtlich geschützten Verbrecher doch noch möglich macht.

Der Kampf für Menschenrechte ist mühsam. Für viele Argentinier und Chilenen hat er in diesen Tagen seinen Sinn erfüllt. Aber er wird weitergehen müssen.

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