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Der Fall Hegemann: Schreib’s auf, schreib’s ab

"Axolotl Roadkill" ist ein Präzedenzfall, wie der Titel nahelegt. Roadkill, das sind überfahrene Tiere am Straßenrand. Das Copyright gehört zu den Kollateralschäden auf globalen digitalen Rennstrecken. Das macht die Hegemann-Debatte so signifikant.

Wir wissen nicht, wer das Rad erfunden hat. Aber vermutlich war die Idee, dass man die Dinge ins Rollen bringen muss, um mit der Zivilisierung des Menschen voranzukommen, genial geklaut – von gewissen Naturerscheinungen. Ähnlich verhält es sich mit der Schrift. Das Lesen ist eine unabdingbare Kulturtechnik, doch was und wie man liest und wie Texte entstehen, ist keineswegs für alle Ewigkeit in Stein gemeißelt oder auf Papier gedruckt. E-Book und iPad, Google und Internet revolutionieren die Technik ebenso wie die Kultur. Blogger halten Einzug in Politik und Literatur. Das Wesen der Kommunikation schlechthin erlebt einen radikalen Wandel.

Allein vor diesem Hintergrund des digitalen Erdrutschs lässt sich die bizarre Debatte um die blutjunge Bestsellerautorin H. H. begreifen. Erst wird „Axolotl Roadkill“, der Roman einer Siebzehnjährigen, beispiellos gehypt und gepriesen. Weil Kritiker ihr Glück nicht fassen können, dass jemand aus dieser angeblich so bücherfernen neuen Welt überhaupt eine literarische Form ausfüllt und schreibt. Weil Hassausabrüche auf die Älteren einem per se zum Masochismus neigenden Kulturbetrieb voyeuristisches Vergnügen bereiten. Und weil das Buch der Helene Hegemann einfach auch gut geschrieben, man muss wohl sagen: zusammengeschrieben ist. Also gestohlen!?

Plötzlich schlägt die Begeisterung in Wut und Vernichtungswillen um. Die Kritik fühlt sich betrogen. Und kontert mit dem absurden Vorwurf, das Mädchen sei viel zu jung, um all den Schweinkram selbst erlebt zu haben. Weshalb es sich – noch lächerlicher, seit wann ist es Schriftstellern verboten, ihrer Fantasie zu folgen? – auch nicht um Literatur handeln könne. Und so wird zur feuilletonistischen Hexenverbrennung geschritten.

„Axolotl Roadkill“ ist ein Präzedenzfall, wie der Titel nahelegt. Roadkill, das sind überfahrene Tiere am Straßenrand. Das Copyright gehört zu den Kollateralschäden auf globalen digitalen Rennstrecken. Das macht die Hegemann-Debatte so signifikant. Es geht um den Roman einer Autorin, die mit den Flüchen und Segnungen der digitalen Welt aufgewachsen und entsprechend gepolt ist. Die gar nicht anders kann, als auf copy/paste zu drücken. Eben darin liegt das Faszinosum. Hier zeigt sich das Paradox der vernetzten Öffentlichkeit. Mit dem technischen Hyperfortschritt wird die Entwicklung des Schriftlichen zurückgedreht.

Die Vorstellung von geistigem Eigentum, die wir hegen und pflegen, ist eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Ein zartes, junges Pflänzchen der bürgerlichen Gesellschaft – es droht im Internetzeitalter nun wieder zu verschwinden, da alle auf alles zugreifen können. Urheberrecht war in der Antike weithin unbekannt, es herrschte das Faustrecht, Texte nach Bedarf zu kopieren und zu verbreiten. Shakespeares Sonette, wie der Pop-Forscher Clynton Heylin in seinem kürzlich erschienenen Buch „As Long As Man Can Breathe“ nachweist, waren Gegenstand etlicher Bootlegs. Der „Schwan von Stratford“ klaute selbst wie ein Rabe. In der Renaissance wurde raubkopiert, gesampelt wie bei den DJs. Karl Mays Verleger manipulierten die Produkte ihres Umsatzgiganten nach Belieben; im Übrigen sind Winnetou und Kara Ben Nemsi reine Schreibtischtäterfantasien.

Literatur lebt vom Erfinden und Wiederfinden, und von da ist es nicht weit zum Plagiat. Der junge Brecht hat sich ohne Scham in der Bibel, beim „Dschungelbuch“-Kipling, bei Gott und der Welt bedient, viele seiner Werke schrieben die Frauen für ihn. Die „Dreigroschenoper“: ein einziger Sampler. Und Weltliteratur.

„Ich müsste meine eigene Hölle haben für den Zorn, meine Hölle für den Hochmut – und die Hölle der Zärtlichkeit; ein ganzes Konzert von Höllen.“ Das klingt nach „Roadkill“ & Co., stammt aber von Arthur Rimbaud. Mit sechzehn publizierte er sein erstes Buch, mit neunzehn schrieb er „Eine Zeit in der Hölle“, mit 21 gab er die Poesie auf, um zu leben. Schon vergessen? Klauen ist kein Kulturbruch, sondern eine altbewährte Kulturtechnik. Rimbaud starb 1891. Generationen von Hegemännern wie Hegefrauen haben seine infernalischen Verse auf Schönste geplündert und weitergedichtet.

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