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DEUTSCHE DEBATTEN: Generation Guru

Walser, Grass, Weizsäcker, Schmidt: Große alte Männer braucht das Land – nur wozu eigentlich?

Die großen alten Männer, heißt es, seien zurück. Und zufällig ist in Leipzig gerade Buchmesse. Der perfekte Tummelplatz für die Seelenlage der politisch so arg desillusionierten, wirtschaftlich so arg gebeutelten, intellektuell so arg ausgelaugten Nation. Die Liste der einschlägigen Veröffentlichungen jedenfalls liest sich, als würden wir uns am liebsten 40, 50 Jahre zurückbeamen lassen – und wenn es keinen Captain Kirk mehr gibt, dann nehmen wir eben Walser, Kohl & Co. Zurück in jene früheren, besseren, echteren Zeiten, als Politiker noch Politik machten und Schriftsteller sich noch einmischten, Debatten entfachten, Gewissen zeigten. Das alte Lied. Nur dass es inzwischen noch ein bisschen älter und tattriger geworden ist.

Der Schriftsteller Martin Walser jedenfalls, 83, beleuchtet gerade seinen Lebenszwist mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki, 89, – eine Affäre, im Wesentlichen, aus den siebziger Jahren. Ein Journalist durchleuchtet die Stasiakte des Schriftstellers Günter Grass, ebenfalls 83, mit Kommentaren des Autors zu den Ereignissen seit den frühen sechziger Jahren. Eine große Biografie illuminiert Leben und Werk von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, 89, und wer wäre befugter als Altbundeskanzler Helmut Schmidt, 91, hierzu den Klappentext zu liefern: „Ich habe alle Bundespräsidenten seit 1949 gekannt, aber er ragt heraus.“ Und Helmut Kohl, 79, Schmidts Nachfolger, der Kanzler der Einheit, der im Rollstuhl sitzt und schon länger nicht mehr redet, wandert wenigstens in Fotografien von Konrad Rufus Müller, 70, durch die Talkshows und Galerien.

Die großen alten Männer sind zurück, keine Frage. Man kann das beruhigend finden, in Zeiten gesteigerter Verunsicherung wächst die Sehnsucht nach Autorität und Autoritäten leicht mal ins Irrationale. Die verwitterten Physiognomien eines Walser oder von Weizsäcker sind nicht nur vitales Anti-Botox, sondern auch die Kehrseiten von Lena Meyer-Landrut, 19, und Helene Hegemann, 18, die ihrerseits gerade hoch im Kurs stehen. Jung, weiblich, erfolgreich sucht alt, männlich, abgeklärt? Die Mitte ist das Problem, aber das ist sie in diesem Land ja häufiger.

Spätestens wenn man liest, wie Sahra Wagenknecht, 40, in der aktuellen Ausgabe des „Stern“ zum Loblied auf Erhard, Brandt und Genscher ansetzt, befällt einen allerdings doch ein Unbehagen. Welcher Nostalgieexpress rollt hier gerade an, und wie viel Verklärung darf’s denn sein? Wollen wir den nächsten dicken Walser oder Grass wirklich lesen? Wollen wir noch einmal von Schmidt und Genscher regiert werden? Sicher nicht. Aber das Lebensgefühl von damals, unser Leben von damals, das hätten wir schon ganz gern zurück. Auch um herauszufinden, wo die gesellschaftliche Verblödung und Verflachung, die politische Irrelevanz, die intellektuelle Blässe, die uns heute regieren, so wurzeln.

Wir sollten sie genießen und schröpfen, unsere großen alten Männer und letzten Häuptlinge. Frauen haben in dieser Gerontokratie ohnehin keinen Platz – und vor der nächsten potenziellen Guru- Generation kann es einen nur gruseln. Schröder, Fischer, Schäuble, Handke? Die Frage ist, was wir tun, wenn wir eines Tages nichts Großes mehr haben und auch keine ruhmreich projizierten Vergangenheiten. Selber führen, selber denken und dichten, selber leben?

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