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Anonymität im Netz: Die dunkle Seele der netten Nachbarn

Was die Anonymität im Netz zum Vorschein bringt, tut weh, ist aber vielleicht heilsam. Es lohnt sich, gelegentlich genauer hinzuschauen - um zu verstehen.

Von Anna Sauerbrey

Am Sonntag stellte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einem Interview das Recht auf Anonymität im Internet infrage. Und schon kurze Zeit später wurde seine Forderung dort diskutiert, wo der Minister hofft, mit Klarnamen für mehr verbale und politische Disziplin zu sorgen – mitten in der „braunen Soße“, im rechten Blog „politically incorrect“, wo sich die Islamhasser Deutschlands zum gemeinsamen Gallespucken treffen. Der Tenor der natürlich weiterhin unter Pseudonymen verfassten Beiträge: Die Anonymität im Netz sei in Deutschland nun einmal der einzige Weg, „offen“ zu sprechen, ohne von der „Meinungsmafia“ mundtot gemacht zu werden, von all den Politikern und etablierten Medien, den „Zensoren“, die bestimmte Äußerungen für unzumutbar erklärt haben.

Da haben sie recht, all die „Eurakels“ und „Karl Martells“. Die Gesellschaft zensiert sich selbst. Sie etabliert Normen, die das Verhalten der Einzelnen regulieren, damit das große Ganze nicht auseinander fliegt. Das fängt beim Straßenverkehr an. Und geht bis zum Gebot der Toleranz, um das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen möglich zu machen. Die Kontrolle dieser Normen funktioniert informell. Wir alle kontrollieren uns gegenseitig, häufig nicht einmal auf der Basis dessen, was wir selbst für richtig halten, sondern aufgrund dessen, was wir für die Meinung der Mehrheit halten.

Bleiben wir beim Beispiel der Fremdenfeindlichkeit. Studien wie die der Friedrich-Ebert-Stiftung zu fremdenfeindlichen Einstellungen in Europa zeichnen immer wieder ein erschreckendes Bild: Rund die Hälfte aller Befragten glaubt, der Islam sei eine „Religion der Intoleranz“. Rund ein Drittel findet, es gäbe eine naturgegebene Hierarchie zwischen Menschen verschiedener Ethnien. Dennoch werden diese Meinungen selten laut geäußert, weil sie nicht der Norm entsprechen, nicht die „öffentliche Meinung“ sind. Die Selbstkontrolle funktioniert.

Insofern hat Friedrich recht: Anonymität entfesselt. Im Netz liegt der ganze Müll offen herum, den wir aus der besenrein gefegten öffentlichen Meinung verbannt hatten. Foren wie „politically incorrect“ erlauben uns einen tiefen Blick in die Seele der Nachbarn, die im Treppenhaus immer so nett grüßen. Und da sieht es eklig aus. Die Gesellschaft schaut in ihre eigene Mülltonne – und erschrickt.

Also besser schnell wieder den Deckel zu? Nur wie? Denkt man Friedrichs Appell zu Ende, bedeutete er nichts weniger als das gläserne Individuum. Auch das Innenministerium hat inzwischen klargestellt, dass ein neues Gesetz nicht geplant sei. Wer überall mit seinem Klarnamen schreiben, sprechen und kaufen muss, von dem lassen sich ohne Weiteres Meinungs- und Konsumprofile erstellen, der ist bald nackt bis auf die Seele. Doch die Demokratie kennt keine Pflicht zum Meinungsouting. Nicht zufällig sind Wahlen frei – und geheim.

Um diese Freiheit zu schützen, müssen wir das hässliche Spiegelbild ertragen, das uns aus so mancher miefigen Ecke des Internets entgegenblickt. Vielleicht hat das sogar eine heilsame Wirkung. Es lohnt sich, gelegentlich hineinzuschauen, um zu verstehen, wie dünn die normative Meinungsdecke ist, die wir für selbstverständlich halten. Und wie wichtig es ist, unsere Werte zu bestärken.

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