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Meinung: Die ewig Unvollendete

Die EU-Verfassung nennt keine klaren Zuständigkeiten – und ist doch ein Fortschritt

Bevor es Nacht wurde in Brüssel, haben es die 105 Männer und Frauen im EU-Konvent geschafft. Abgeordnete, Regierungsvertreter und EU-Kommissare – sie alle standen am Freitagnachmittag unter den Klängen von Beethovens „Ode an die Freude“ ganz gerührt nebeneinander, als klar war: Sie haben sich auf einen Entwurf für eine europäische Verfassung geeinigt. Zumindest in den wesentlichen Punkten. Die restliche Arbeit wollen der Franzose Valéry Giscard d’Estaing und sein Konvent im Juli zu Ende bringen. Muss man jetzt abwarten, wie der Rest auf der europäischen Verfassungs-Baustelle vorankommt, um sich ein Urteil über das Verfassungs-Dokument zu erlauben? Man muss nicht. Denn schon jetzt steht fest: Die Verfassung ist ein Fortschritt für Europa. Trotz allem.

Manch einer und manch eine im Konvent hatte Tränen in den Augen, als das Ergebnis ihrer 15-monatigen Arbeit vorlag. All jene, die nicht so sehr in die aufreibende Arbeit des Gremiums vertieft waren und auch nicht zu den Insidern des Europa-Geschäfts gehören, werden den Verfassungsentwurf einer kühleren Betrachtung unterziehen. Das gilt vor allem für die Betroffenen selbst – die Bürger der Europäischen Union.

Verfassungstexte sind nicht unbedingt dazu geeignet, dass man sich das Herz an ihnen erwärmt. Und doch steht im künftigen europäischen Grundgesetz einiges, das den Bürgern anschaulich vor Augen führt: Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Giscard d’Estaing war weise genug, die europäische Grundrechte-Charta in die Verfassung aufzunehmen. In der Charta erkennen die Bürger eine Europäische Union, die ein eigenständiges Profil in der Welt beansprucht: mit Klonverbot, Umweltschutz und einer wettbewerbsfähigen und gleichzeitig sozialen Marktwirtschaft. Während des Irak-Krieges sind viele Europäer ins Grübeln gekommen, was sie eigentlich vom Rest der Welt unterscheidet und wie sie künftig auf der Welt Position beziehen sollen. Die EU-Verfassung gibt dabei einige Hinweise. Wem das zu wolkig ist, kann sich damit trösten, dass er mit der künftigen Verfassung auch ein paar handfeste Dinge in Händen hält: Etwa die doppelte Staatsbürgerschaft (willkommen in der EU-Staatsbürgerschaft!) und die Möglichkeit, der EU-Kommission mit einem Bürgerbegehren Druck zu machen.

So klug es von Giscard d’Estaing war, den Bezug aufs Europäertum nicht zu vergessen, so sehr mühte er sich an der künftigen politischen Ordnung des Brüsseler Ungetüms – und ist dabei teilweise gescheitert. Wie die EU wirklich funktioniert, wird für die meisten Menschen auch nach der Vorlage des Verfassungsentwurfes weitgehend ein Rätsel bleiben. Irgendwann einmal könnte es in der Europäischen Union einen einzigen Regierungschef mit dazugehörigem Außenminister geben – so wie alle EU-Bürger es zu Hause gewohnt sind. Giscards Entwurf schließt diese Möglichkeit langfristig nicht aus. Aber zumindest bis zum Ende dieses Jahrzehnts wird die EU mit der Konkurrenz zwischen dem Ratspräsidenten – dem Vertreter der Mitgliedstaaten – und dem Kommissionschef leben müssen. Auf den Präsidenten der Brüsseler Kommission setzen all jene ihre Hoffnung, die das Ende der europäischen Kleinstaaterei befürworten.

Zwar legt die Verfassung – ganz im Sinne der Unions-geführten Bundesländer – erstmals fest, wo die eigentlichen Aufgaben der EU liegen und was auf den darunter liegenden Ebenen entschieden werden soll. Aber die eigentliche Frage, ob die EU in erster Linie eine zwischenstaatliche Veranstaltung ist oder von Brüssel aus dirigiert wird, ist auch mit dem Verfassungsentwurf nicht entschieden.

Ob Europas „Finalität“, ihre endgültige Form, jemals geklärt wird, wird wohl entscheidend vom Druck der politischen Ereignisse abhängen. Welchen Sinn soll es schließlich machen, im Zeitalter globaler Flüchtlingsströme oder grenzüberschreitender Umweltprobleme auf dem nationalen Veto zu beharren? Zwar wird eine gemeinsame Außenpolitik auf lange Sicht ein Wunschtraum bleiben – die Irak-Krise hat es an den Tag gelegt. In vielen anderen Bereichen wird Europa aber enger zusammenwachsen, wenn die neue Verfassung erst einmal ratifiziert ist. Irgendwann. So um das Jahr 2006.

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