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Meinung: Die magische 165

Warum die für Demokratien typische Kompromisslösung in der Pandemie so skurril ist.

Warum jetzt die 165? Auf diese Inzidenzzahl hat sich die Koalition wohl geeinigt – ab diesem Grenzwert müssen Schulen künftig geschlossen werden. Und nicht ab der ursprünglich vorgesehenen Inzidenz von 200. Das Geschrei ist groß, die Kritik von allen Seiten auch: Der Deutsche Lehrerverband findet die Zahl immer noch zu hoch und plädiert für 100, Sachsens Kultusminister dagegen kritisiert die Absenkung – denn damit würden Schulen womöglich bis zum Sommer geschlossen bleiben.

Die Kritik wäre auch bei einer anderen Zahl groß gewesen – die Positionen sind bekannt, es kommt immer auf die Perspektive und die Prioritäten an. Warum aber nun die geheimnisvolle 165? Sie war bisher nie im Spiel. Auch ist keine Aussage eines Wissenschaftlers bekannt, nach der ab dieser magischen Grenze etwas kippen könnte.

Die Antwort ist banal: Die 165 ist wohl das wunderbare Ergebnis des demokratischen Prozesses der Kompromissfindung. Interessen ausgleichen, einen Mittelweg finden, die für alle tragbar sind, Minderheiten Gehör verschaffen – so funktioniert Demokratie, eigentlich sind das ihre Stärken. Gerade in Deutschland, wo der Konsens das heiligste politische Mittel überhaupt ist. Aber nicht zum ersten Mal hat sich dieser Prozess des Interessenausgleichs bei der Pandemiebekämpfung als irrig erwiesen. Die Wahl der Zahl 165 belegt das einmal mehr eindrücklich: Sie liegt zwischen der 100 (bei der die Läden wieder schließen) und der 200 (welche zunächst für Schulschließungen gelten sollte) – aber das Lager der langen Schulöffner war doch noch stark genug, um zu verhindern, dass man sich genau in der Mitte trifft. Für eine 170 hat es aber nicht gereicht. Klar ist natürlich, dass in einem Infektionsschutzgesetz, das bundeseinheitliche Regeln herbeiführen soll, ein fester Wert stehen muss – sonst braucht es niemand.

Und so werden Eltern, Schüler und Lehrer zukünftig auf die 165 starren. Diese Inzidenzzahl könnte nicht nur in Berlin schon am Donnerstag erreicht sein – in Berlin lag sie am Dienstag bei 151. Zufällig ist genau dieser Donnerstag, der 22. April, der Tag, an dem das Gesetz – so es denn am Mittwoch den Bundestag passiert – im Bundesrat beschlossen werden soll. Aber das wird ja reiner Zufall sein, dass die neu ausgehandelte Schulschließungsinzidenz genau mit politischer Verabschiedung des Gesetzes erreicht wird. Das Schöne an dieser Zahl: So kommt niemand in die Verlegenheit, früher tätig werden zu müssen.

Ach ja, und dann sind da ja auch noch Zahlenspiele mit der Ausgangsperre:  Von 21 Uhr bis 5 Uhr waren vorgeschlagen – da läge die Mitte rechnerisch bei 1 Uhr und man könnte eine Stunde vorher und nachher schließen. So sähe ein echter Kompromiss aus, das war aber wohl doch zu sinnentleert. Dann eben bis Mitternacht für einsame Jogger und Hundehalter. Für diejenigen, die ohnehin gegen die Ausgangssperre vor Gericht ziehen wollen, macht es sowieso keinen Sinn, sich hier zu verkämpfen.

Zahlenspiele können aber nicht darüber hinwegtäuschen: Der demokratische Prozess der Kompromissfindung, das Austarieren unterschiedlicher Interessen bringt im Kampf gegen ein Virus skurrile Blüten hervor. Doch das führt kaum zur eventuell besten Lösung: Den kurzen radikalen Lockdown, wie ihn Verfechter einer No-Covid-Strategie geradezu erbetteln, kann es damit nicht geben.

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