zum Hauptinhalt

Meinung: Die Mehrheit träumt mit

Vor 40 Jahren hielt Martin Luther King eine große Rede – sie hat Amerika verändert

Die Kulisse war erhaben, der Zulauf dürftig. Ansprachen wurden gehalten, die keiner hören wollte. Stühle und Zelte standen leer. Ein paar professionelle Kamerateams filmten das Geschehen. Doch selbst die vorbeischlendernden Touristen zeigten nur Interesse an den berittenen Polizisten, die sich im Schatten großer Bäume vor der Sonne schützten. Jahrestage können ein Ereignis wieder zum Leben erwecken. Manchmal passiert das Gegenteil: Plötzlich wird einem bewusst, wie viel Zeit vergangen ist.

Am Freitag begannen in den USA die Feierlichkeiten zum 40. Jubiläum einer der berühmtesten Reden der amerikanischen Geschichte. Am 28. August 1963 stand der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King vor den Stufen des Lincoln Memorials in Washington. Die Stadt glich einer Festung. In den Straßen patrouillierten Tausende Soldaten, Hubschrauber standen zum Einsatz bereit. Angekündigt war die größte Demonstration, die das Land bis dahin gesehen hatte. Eine Viertelmillion Menschen war gekommen, einige weiß, die meisten schwarz. Sie forderten ein Ende der Rassendiskriminierung und mehr Arbeitsplätze. Spannung lag in der Luft. Die Medien befürchteten „Horden von plündernden Negern“. Wider Erwarten blieb es friedlich.

Martin Luther King hielt eine kurze, teils vorbereitete, teils improvisierte Rede in der Tradition schwarzer Predigten. Sie gipfelte in einem wiederkehrenden, sowohl kämpferischen als auch visionären Motiv. „I have a dream“ – Ich habe einen Traum: Eine Nation, in der die Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden, sondern nach ihrem Charakter. Die Rede war ein rhetorisches Meisterwerk. In ihr vereinten sich die Lehren von Jesus und Ghandi mit den Grundwerten der amerikanischen Gründerväter. Die Menge war ergriffen, das FBI alarmiert. Martin Luther King sei „der gefährlichste Neger dieses Landes“, hieß es danach in einem internen Memorandum.

Zunächst veränderte weniger Kings Traum-Rede das Land als die Massendemonstration. In rascher Folge verabschiedete der US-Kongress wegweisende Gesetze, um die Rechte von Minderheiten zu gewährleisten, im Jahre 1964 den „Civil Rights Act“, ein Jahr später den „Voting Rights Act“. Martin Luther King wurde 1968 ermordet. Erst der Schock darüber machte seine Rede weltweit populär. Der Ermordete wurde zum Symbol seines Traumes. Auf ihn beriefen sich Nelson Mandela und Desmond Tutu, Bob Marley und osteuropäische Dissidenten.

Vierzig Jahre nach der Rede wird die Erinnerung von einem diffusen Potpourri politischer Gruppen wachgehalten: Umweltschutz-, Frauen-, Lesben- und Schwulenorganisationen, arabischstämmige Amerikaner und Latinos. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Jubiläums-Protestler bringen lassen, ist ihre Ablehnung der BushAdministration. Drei der neun demokratischen Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur haben ihre Aufwartung gemacht. Doch selbst die Veranstalter sind enttäuscht. Aus dem „Marsch auf Washington“ ist ein Märschlein geworden. Je bunter die Ziele, desto geringer ist dem Anschein nach der Einfluss der Bürgerrechtsorganisationen.

Die Gründe sind vielfältig. Die rechtliche Gleichstellung der Rassen ist in Amerika erreicht. Das politische Problem hat sich in ein gesellschaftliches verwandelt. Bezogen auf den Bevölkerungsanteil leben weiterhin mehr Schwarze als Weiße in Armut, werden mehr schwarze als weiße Teenager schwanger, sitzen mehr Schwarze als Weiße im Knast, studieren weniger Schwarze als Weiße. Der Traum von Martin Luther King hat sich längst noch nicht erfüllt. Andererseits geht es den Schwarzen in Amerika heute so gut wie nie zuvor. Eine schwarze Mittelschicht ist entstanden. Schwarze sitzen in hohen Regierungsämtern. Die Tendenz zur allgemeinen sozialen Integration hält an.

Amerika ist insgesamt farbiger geworden. Inzwischen sind die Latinos die größte Minderheit. Schneller als die Zahl der Schwarzen steigt die der asiatischen Einwanderer. In Bundesstaaten wie Kalifornien sind die Weißen nicht mehr in der Mehrheit. Das Grundgefühl von vor vierzig Jahren – eine weiße, rassistisch geprägte Mehrheit beherrscht eine schwarze, unterdrückte Minderheit – findet in der Realität kaum noch Impulse.

So hat die Traum-Rede ihre polarisierende Kraft verloren. Das Schicksal des charismatischen Predigers aus dem Süden ist ein Teil der amerikanischen Geschichte geworden. Sein Geburtstag ist ein Feiertag. Die Vertreter beider großen Parteien wollen ihm demnächst auf der Mall in Washington ein Denkmal errichten. Dann steht er bei Lincoln, Jefferson und Roosevelt. Es ist viel geschehen in vierzig Jahren. Kings Traum mag sich noch nicht erfüllt haben, aber eine Mehrheit der Amerikaner träumt diesen Traum mit ihm.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false