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Meinung: Die Türkei – als Wette auf die Zukunft Warum Europas Umgang mit Ankara unehrlich ist

Von Christoph von Marschall Wer sagt denn, es gebe keinen Streit um Europa – die großen Fragen würden hinter verschlossenen Türen ausgekungelt und was Brüssel einmal beschlossen habe, nie wieder rückgängig gemacht? Rechts und Links erheben den Umgang mit der Türkei zur Überlebensfrage der EU.

Von Christoph von Marschall

Wer sagt denn, es gebe keinen Streit um Europa – die großen Fragen würden hinter verschlossenen Türen ausgekungelt und was Brüssel einmal beschlossen habe, nie wieder rückgängig gemacht? Rechts und Links erheben den Umgang mit der Türkei zur Überlebensfrage der EU. Obwohl der islamistische Wahlsieger Erdogan bei seiner Werbetour durch Europa kompromissbereiter auftritt als seine areligiösen Vorgänger.

Die Aufnahme der Türkei sei „das Ende der Europäischen Union“, wettert Valery Giscard d’Estaing, Präsident des Verfassungskonvents. Nur EU-Gegner könnten dafür sein. Immer mehr bürgerliche Parteien sprechen sich unter Verweis auf Geographie und religiöses Erbe gegen Beitrittsgespräche mit Ankara aus, auch Edmund Stoiber und Angela Merkel auf dem CSU-Parteitag.

Europas Linke argumentiert umgekehrt. Die Türkei sei der Testfall für die Demokratisierung und Modernisierung eines moslemischen Landes. Versage die EU dabei und erweise sich als voreingenommen, werde sie die Konflikte mit der islamischen Welt nicht befrieden. Die Grüne Claudia Roth bewertet die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei als so wichtiges Signal, dass die EU ein Datum für Verhandlungen nennen müsse.

Beiden Positionen fehlen Ehrlichkeit und Stringenz. Wenn die Konservativen so sicher sind, dass Geographie und Religion es der Türkei unmöglich machen, die Bedingungen für eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen, warum warten sie nicht in aller Ruhe das Scheitern ab? Denn das glaubt doch wohl niemand: Dass die demnächst 25 EU-Staaten ihr kompliziertes Regelwerk Ankara zuliebe ändern. Wenn es jedoch der Türkei gelingt, Staat und Rechtssystem so umzubauen, dass es im Alltag den EU-Standards von Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Stellung der Frau und Minderheitenschutz genügt, dann wäre sie ein ganz anderes Land – europäisch eben.

Die moslemischen Traditionen mögen diesen Weg erschweren und verlängern, aber wenn die Türkei ihn bis zum Ende geht, wäre die Religion doch kein unüberwindliches Hindernis gewesen. Das Urteil, ob das gelingen kann, muss nicht Westeuropa als Prognose fällen. Das spricht die Zukunft.

Tatsächlich fürchten die Gegner die Geburtenrate und die Auswirkungen der vielen ungelösten Konflikte in der Türkei. Mit 65 Millionen Bürgern wäre sie heute Nr. Zwei in der EU. Schon bald wird sie Deutschlands 82 Millionen überrundet haben. Die EU müsste der Türkei dann die dominante Position in der Kommission, im Parlament und der Bürokratie einräumen. Wer will das?

Rot-grün argumentiert nicht überzeugender. Wieso sollen Dialog und Kooperation mit der Türkei nur dann Vorbild sein, wenn sie mit der Integration enden? Und: Für Beitrittsgespräche gibt es eindeutige Kriterien. Es ist widersinnig, dass Ankara Brüssel nach dem Datum fragt. Das Zeitpunkt hängt nicht von der EU ab, sondern allein vom Reformtempo der Türkei. Wenn Erdogan sagt, das werde noch sechs bis acht Jahre dauern – was ziemlich optimistisch ist –, warum jetzt schon Verhandlungen beginnen?

Die Türkei hat 2002 für ihre Verhältnisse große Fortschritte gemacht; doch nicht einmal die Hälfte der Hürden beseitigt. Was nützen Verfassungsänderungen, die nicht in die Anwendungsgesetze übertragen werden? Was neue Vorschriften, die im Alltag nicht durchgesetzt werden? Auch Rot-Grün kann sich nicht anmaßen, bereits den guten Ausgang des langen Reformprozesses zu kennen.

Amerika standhalten

Beide Lager sollten sich ehrlich machen. Wenn die Bürgerlichen die Türkei auf keinen Fall in der EU haben wollen – wegen der inneren Kräfteverhältnisse und weil sie zu viele Konflikte mit undemokratischen Nachbarn mitbringt –, dann sollten sie nicht die Religion vorschieben. Und ein alternatives Konzept der Anbindung an Europa anbieten.

Wenn Rot-Grün überzeugt ist, dass die Türkei die Reformen schafft, die sie erst EU- kompatibel machen, muss sie nicht halbherzige Signale mit Beitrittsgesprächen belohnen, sondern kann warten, bis es soweit ist.

Ganz Europa darf selbstbewusster auf den Druck der USA reagieren. Die meisten Amerikaner haben keine Ahnung vom Wesen der EU: Wie tief die Integration bereits geht – weshalb Fremdkörper das System sprengen. Sie halten sie für eine bessere Freihandelszone, wie sie Amerika mit Mexiko verbindet, wissen nicht, dass die EU und ihr Nicht-Mitglied Türkei weiter sind, eine Zollunion bilden. Wer von Amerika verlangt: „Nehmt Mexiko als 51. US-Staat auf“, wird erschreckte Abwehr ernten. – „Seht, ungefähr das fordert Ihr im Fall Türkei von Europa.“ Der Rest ist kleinlautes Schweigen.

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