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Die Arbeit kann beginnen. Barack Obama ist für vier weitere Jahre ins Weiße Haus gezogen und hat viel vor sich.

© AFP

Die USA nach der Wahl: Wir sind keine alten weißen Männer mehr

In New York kann man heute schon erleben, wie die USA 2050 sein werden: bunter, weiblicher, jünger. Obama weiß das zu schätzen. Aber Lösungen für die großen Probleme des Landes sind nicht in Sicht.

Zwei Tage vor der Wahl haben wir uns zu zehnt in meiner Wohnung getroffen, um mit Leuten in Florida zu telefonieren. Wir wollten etwas dafür tun, dass Obama wiedergewählt wird. Die meisten von uns haben viel Zeit in den Wahlkampf gesteckt, oder sie haben in den Stadtteilen von New York geholfen, wo „Sandy“ wütete. Tausende lebten dort immer noch ohne Strom und Wasser. Teile von Staten Island und besonders Breezy Point sahen immer noch aus wie Dresden am Tag nach der Bombardierung durch die Alliierten. Die Temperaturen näherten sich nachts dem Gefrierpunkt, auch tagsüber wurde es kälter. Einige Regierungsbehörden waren zur Stelle, aber die meisten Freiwilligen hatten die Leute vor Ort zusammengetrommelt, und es gab einfach viele, die helfen wollten. Ein neuer Sturm kündigte sich an.

Die ganze Woche über waren Nachrichten aus Florida und Ohio eingetroffen, die von Wahlbetrug und Unterdrückung von Wählerstimmen berichteten. In meinen Augen und in den Augen vieler Linker sind die Republikaner berüchtigt für diese Praktiken – immer nach der gängigen Weisheit: Damit ein Republikaner gewinnt, muss man nur möglichst effektiv das Wahlrecht unterminieren. Kurzum: Die Stimmung war düster, die Atmosphäre angespannt, und ein Gefühl von Weltuntergang lag in der Luft. Das habe ich so in dieser Stadt noch nicht erlebt, außer am 11. September 2001.

Die Attacken am 11. September waren ein Schock. Wir waren so fassungslos, dass wir nichts anderes denken konnten, außer dass wir bestimmt im falschen Film sind. Wir standen auf unseren Dächern und sahen, wie sich Menschen aus den Twin Towers in den Tod stürzten, es war für uns ein einzigartig verstörender Moment.

Aber das Zusammentreffen zweier auf den ersten Blick völlig disparater Ereignisse – eine Wahl und ein Orkan – fühlte sich an, als ob eine Welle auf uns zurollte, die alles zunichte machen würde, was die Vereinigten Staaten in den vergangenen 50 Jahren erreicht haben beim Schutz von Bürgerrechten und Freiheitsrechten. So langsam kam uns „Sandy“ vor wie die Vorhut des Sturms, der uns treffen würde, wenn sich Mitt Romney daran macht, seine Vorstellungen umzusetzen. Nicht nur als Metapher, sondern als Poster, auf der die hohen Einsätze plakatiert waren, um die es bei dieser Wahl ging, und um die es auch in Zukunft gehen würde, lange nach dem Sturm.

Eine Wahl ist ja nie ein singuläres Ereignis. Eine Wahl ist nur der Glockenschlag, der eine neue Zeit einläutet, die das Leben von Menschen zerstören kann, langsam und schmerzhaft, mit einem Gesetz nach dem anderen, mit einem Verfassungsgerichtsurteil nach dem anderen. Es gehört natürlich in der Politik dazu, dass die einen den Weltuntergang kommen sehen, wenn die anderen gewinnen. Denken Sie nur an den Wahlkampf Jefferson gegen Adams im Jahr 1800, als eine Zeitung, die den Föderalisten nahestand, suggerierte, dass mit Jefferson als Präsident „Mord, Raub, Vergewaltigung, Ehebruch und Inzest öffentlich gelehrt und gelebt werden würden“. Seltener ist, dass die ideologische Kluft zwischen den beiden Parteien so tief ist, dass die eine Seite das Äquivalent von Vergewaltigung und Mord ins Spiel bringt, indem sie Frauen, die Möglichkeit zur Abtreibung nehmen will und eine Einstellung propagiert, die 47 Prozent des Landes als „faule Schmarotzer“ abtut.

Als Obama vor vier Jahren die Wahl gewonnen hat, haben wir in den Straßen getanzt. Nicht, weil wir so naiv gewesen wären, seiner magischen Aura zu erliegen oder der Hoffnung, er könne Brücken zwischen den Menschen bauen. Sondern weil sein Wahlsieg ein Höhepunkt darstellte in einem über zweihundert Jahre alten Kampf um sozialen Fortschritt. Nach der Wiederwahl von Obama ist die Stimmung nüchterner. Das liegt vor allem daran, dass der soziale Fortschritt wieder in den Hintergrund gerückt ist. Jetzt geht es erst mal darum, die Leute wieder in Arbeit zu bekommen. Es liegt aber auch daran, dass viele Linke im Land unzufrieden sind mit Obamas Arbeit in der ersten Amtszeit. Das ist sein Messias-Komplex. Die vertanen ersten Wochen, als er alles hätte erreichen können. Seine Halbherzigkeit bei den Konjunkturprogrammen. Seine Liste mit Terroristen, die es zu töten gilt, was unverantwortlich ist und mit nichts zusammengeht, woran die Partei angeblich glaubt. Ganz abgesehen von seiner Unfähigkeit, die Amerikaner von seiner Wirtschaftspolitik zu überzeugen. Wenn es darauf ankommt, sich zu verkaufen, schlägt der Kandidat Obama den Präsidenten Obama um Längen.

Und ja, deshalb sind wir diesmal nicht so sehr in Jubelstimmung, aber wir sind erleichtert. Das ist mit Händen greifbar. Man kann sozusagen überall im Land Menschen erleichtert seufzen hören: Krise abgewendet. Frauenrechte geschützt. Die Mittelklasse, Veteranen, Ältere und die Armen: geschützt. Ebenso Einwanderer und die schwul-lesbische Community. Zumindest hoffen wir das.

Die meisten Amerikaner sind dafür, dass die Reichen den Ärmeren helfen sollen

Auch wir sind Amerika. Einwanderer bei einer Protestkundgebung in Washington mit der Forderung nach einer Reform der Einwanderungsgesetze.
Auch wir sind Amerika. Einwanderer bei einer Protestkundgebung in Washington mit der Forderung nach einer Reform der Einwanderungsgesetze.

© dpa

Wir haben Obama nicht wiedergewählt, weil wir denken, dass er so wahnsinnig gut gearbeitet hat. Wir haben ihn wiedergewählt, weil wir denken, dass er es besser kann und es auch besser machen wird in der zweiten Amtszeit.

Und weil wir 2012 einen Präsidenten und eine Partei brauchen, denen bewusst ist, dass sich die USA demografisch sehr verändern und die das auch zu schätzen wissen. Wir sind keine alten weißen Männer mehr. Wir sind keine religiösen Fanatiker. Wir glauben nicht an so was wie „legitime Vergewaltigung“ oder dass eine Schwangerschaft, die aus einer Vergewaltigung hervorgeht, Gottes Wille ist. Genauso wenig glauben wir an ein Wirtschaftssystem, das sich vor allem um die Spitze kümmert. Die meisten Amerikaner sind dafür, dass die Reichen den Ärmeren mehr helfen sollen. Die meisten Amerikaner glauben an einen Gesellschaftsvertrag und dass ein jeder Zugang zu medizinischer Versorgung haben soll – solang man es nicht „Sozialismus“ nennt. Die meisten Amerikaner wollen eine Gesellschaft, in der man sich gegenseitig hilft und zusammenarbeitet.

Und in New York kann man heute schon an jeder Ecke erleben, wie Amerika 2050 sein wird: Ein bunter Querschnitt von Gemeinschaften, die dann in der Mehrheit sein werden oder zumindest politisches Kapital daraus schlagen, dass sie anwachsen: Schwarze, Asiaten, Hispanics, Frauen.

Die Stadt ist auch die Heimat von Tausenden gleichgeschlechtlichen Paaren, die Kinder groß- ziehen und ihr Leben leben. Und wenn man sieht, dass sich die Wähler in Maryland und in Maine für die Homo-Ehe ausgesprochen haben, hat man langsam das Gefühl, dass auch der Rest des Landes sich mehr und mehr damit anfreundet, was hier passiert.

Fiona Maazel ist Schriftstellerin und lebt in Brooklyn.
Fiona Maazel ist Schriftstellerin und lebt in Brooklyn.

© privat

Wir New Yorker waren einmal eine Bastion von Verrückten und durchgeknallten Linken. Aber das sind wir längst nicht mehr. Für meine Freunde und Kollegen ist New York – wie Berlin – ein Epizentrum der Künste und ein Anziehungspunkt für Tausende, die unter die notorischen von Mitt Romney diffamierten 47 Prozent „Schmarotzer“ fallen.

Zum Beispiel Schriftsteller, die sechs Jobs haben und trotzdem wenig vorsorgen können, weil das Geld gerade so zum Überleben reicht. Und trotzdem helfen sie nach dem Sturm draußen in Staten Island, die Keller auszupumpen, und verteilen Lebensmittel in den betroffenen Küstenregionen.

„Sandy“, der Sturm, liegt schon über eine Woche zurück und in den meisten Teilen der Stadt herrscht Normalität. Die Schlangen vor den Tankstellen sind noch immer lang, aber wer nicht in einer besonders zerstörten Nachbarschaft lebt, merkt gar nicht, wie groß das Leid von vielen ist. Das ist es aber. Schätzungen zufolge haben bis zu 40 000 New Yorker ihre Unterkunft verloren. Die provisorischen Heime laufen über und die Lage dort ist unhygienisch und gesundheitsgefährdend.

Was wird mit all diesen Menschen geschehen? In New York gibt es schon eine Wohnungskrise. Schon so war die Stadt überfüllt und chaotisch. Manchmal denkt man, die Insel Manhattan müsste untergehen unter dem Gewicht all der Menschen, die sie tragen soll. Lösungen sind nicht in Sicht. Und niemand hat bisher einen Plan vorgelegt, wie solche Überflutungen in Zukunft verhindert werden könnten. Denn dass es wieder einen Sturm geben wird, ist sicher. Und dann noch einen und noch einen.

Extreme Wetterlagen sind die Realität, dank derjenigen, die bestreiten, dass es den Klimawandel gibt. Und all das kostet Geld, zu einem Zeitpunkt, an dem die Schulden außer Kontrolle geraten sind, die Wirtschaftslage fragil, die Arbeitslosigkeit noch immer hoch ist.

Obama wiederzuwählen, stählt uns gegen die Hoffnungslosigkeit

Erinnern Sie sich an die apokalyptische Stimmung, die ich anfangs erwähnt hatte? Obama wiederzuwählen, stählt uns gegen die Hoffnungslosigkeit. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass das Land das Schlimmste bereits hinter sich hätte. Und es bedeutet eben auch nicht, dass wir in den kommenden vier Jahren unsere Probleme leichter werden lösen können. Wir haben einen Kongress, der alles ablehnt und blockiert, was die Menschen in den Wahnsinn treibt. Wir haben Extremisten in den Parteien, die jeden Kompromiss ablehnen. Und wir haben eine Bevölkerung, die tief verunsichert ist über den Weg nach vorn. Wie ein anderer Schriftsteller einmal über das Luftschiff Hindenburg geschrieben hat: „Wir sind ruhelos in der ruhelosen Luft“.

Trotzdem ist die Versuchung groß, sich in Häme zu ergehen. Schwer, sich nicht an den Witzen zu freuen, die im Internet kursieren. „Weitere schlechte Nachrichten für die Konservativen: Präsident Obama wird auch in seiner zweiten Amtszeit schwarz bleiben.“ Oder: „Bibo hat gewählt.“ Und so weiter. Aber was bringt uns das? Schon jetzt ist aus dem republikanischen Repräsentantenhaus die Botschaft zu hören: Mit uns gibt es keine Steuererleichterungen für die Mittelschicht und keine Steuererhöhungen für die Reichen. Klingt das bekannt? Das sind die Töne einer blockierten Regierung. Wir kennen sie nur allzu gut.

Und das bringt mich zu einem kuriosen Moment der Harmonie zwischen Präsident Obama und Chris Christie, dem Gouverneur von New Jersey, direkt nach „Sandy“. Phänotypisch könnten die beiden Männer nicht unterschiedlicher sein: der eine drahtig und distanziert, der andere klein und untersetzt und nicht selten zerzaust. Man kann die beiden fast gar nicht nebeneinander stehen sehen, ohne zu lachen. Politisch passen sie kaum besser zusammen. Aber in den Nachwehen von „Sandy“, als es leicht war, sich die Hand zu reichen, taten sie es: weil die Menschen Hilfe brauchten. Und das Land geriet aus dem Häuschen, als ob diese Freundschaft den Weg weisen könnte zu jenen Kompromissen über die Parteigrenzen hinweg, auf die wir seit Jahren warten.

Und leider ist es so: Wir haben in den vergangenen Jahren unsere Erwartungen an die Politiker so weit gesenkt, dass Obamas und Christies Zusammenarbeit in New Jersey schon wie ein Anlass zum Jubeln wirkt. Das vor Augen, kann man kaum hoffnungsvoll auf die Zukunft schauen.

Es schneit gerade in der ganzen Stadt. Und während ich schreibe, frage ich mich, wo die gelandet sind, die gerade ihre Wohnungen verloren haben, ob sie in Sicherheit sind und warm und ob sie die Kraft haben, sich Gedanken über die kommenden vier Jahre zu machen. Darüber, was aus diesem Land werden wird. Darüber, wie New York in vier Jahren aussehen wird.

Ich vermute, sie haben diese Kraft. Ich glaube, dass die Leute gerade ihre Stühle ins Feuer werfen, um warmzubleiben, und hoffen, dass es besser wird. Und dass sie hartnäckig an dieser Hoffnung festhalten. So wie ich. Und wie das Land und wie auch die 49 Prozent, die nicht für diesen Präsidenten gestimmt haben. Das ist die einzige Schnittmenge, die wir im Moment haben. Und hier wird, ohne Zweifel, Präsident Obama mit seiner Arbeit ansetzen.

Fiona Maazel ist Schriftstellerin und lebt in Brooklyn. Ihr dritter Roman "Woke up lonely" erscheint im April 2013. Maazel schreibt auch für die New York Times und Village Voice. Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Claudia Keller und Moritz Schuller.

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