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Meinung: Domino in Zentralasien

Die Revolution in Kirgisistan könnte einen Flächenbrand in der ganzen Region auslösen

Die Revolution in Kirgisistan macht momentan weltweit Schlagzeilen. Weniger stark geraten die Nachbarstaaten in Kirgisistan in den Blick – dabei hat sich dort noch ungleich mehr Zündstoff angehäuft.

In Kasachstan und Tadschikistan haben sich Autokratien etabliert, Usbekistan steht kurz vor dem Quantensprung zum Totalitarismus, Turkmenien ist eine Kopie Nordkoreas. Überall wurde die Opposition brutal in den Untergrund gezwungen. Die Staatschefs sicherten sich mit Verfassungsänderungen, manipulierten Referenden und Wahlen die Macht auf Lebenszeit. Vetternwirtschaft und Korruption treiben mit Ausnahme Kasachstans die Volkwirtschaften – durch das Ende der UdSSR bereits schwer angeschlagen, weil auf die Monokultur Baumwolle getrimmt und bei der Industrieproduktion von Zulieferungen anderer Sowjetrepubliken abhängig – in den Ruin. Und die Massen ins nackte Elend.

Die Dämme brachen dennoch zuerst in Kirgisistan. Zwangsläufig. Die Amtsbrüder des nach Moskau geflohenen Ex-Präsidenten Akajew herrschten schon als Parteichefs über die zentralasiatischen Sowjetrepubliken, er dagegen wurde 1990 als Mandatsträger der Demokraten gewählt und bewahrte sich Reste ihrer Denkmuster: Oppositionsparteien waren legal und nicht alle Medien gleichgeschaltet. Beides begünstigte den Aufruhr und dürfte die Chefs der Nachbarrepubliken veranlassen, dort die Daumenschrauben noch fester anzuziehen. Auch in Kasachstan, wo Präsident Nasarbajew ein Minimum an Demokratie zuließ, um das rasante Wirtschaftswachstum nicht zu gefährden.

Das Konfliktpotenzial wächst dadurch weiter – proportional dazu der Radikalisierungsgrad der Opposition. Die Chancen für einen friedlichen Machtwechsel sind daher bei den Nachbarn noch geringer als in Kirgisistan. Ständig in Angst vor der Entmachtung, blocken die dortigen Despoten jede Alternative ab. Das Machtvakuum, das dadurch entsteht, dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit islamische Kräfte füllen.

Zum einen, weil die Entwicklungen in Afghanistan stets Rückwirkungen auf Zentralasien haben. Wegen der langen gemeinsamen Geschichte und weil beiderseits der Grenzen dieselben Völker leben. Zum anderen, weil westliche Werte, zu denen sich auch die weltliche Opposition Zentralasiens bekennt, durch den Afghanistankrieg der USA nachhaltig diskreditiert sind. Um die zentralasiatischen Basen nutzen zu können, sahen die Bush-Krieger über Demokratiedefizite der Machthaber großzügig hinweg. Antiwestliche Ressentiments, die es vorher nicht gab, sind inzwischen weit verbreitet, die Idee eines Kalifats wird konkurrenzfähig, ist aber nicht die größte Gefahr.

Zwar negiert der klassische Islam den Begriff der Nation. In Zentralasien dagegen, wo die willkürliche Grenzziehung der Sowjets ethnisch bunt durchmischte Staaten mit zahllosen gegenseitigen Gebietsansprüchen schuf, war er stets auch Vehikel im Kampf der Minderheiten gegen ethnische Diskriminierung durch die jeweilige Mehrheit. Konflikte, die zum Ende der Perestroika zu bewaffneten Zusammenstößen und nach der Unabhängigkeit Tadschikistans zu einem fünfjährigen Bürgerkrieg eskalierten.

Wiederholungen sind jederzeit möglich und könnten in einem regionalen Krieg münden, in dem sich die ohnehin schwachen staatlichen Strukturen der UdSSR-Spaltprodukte mehr oder minder auflösen. Mit allen Konsequenzen. Für Russland, das wegen imperialer Ambitionen unfähig ist zu effizientem Krisenmanagement. Und für das christliche Abendland, das sich den Luxus leistet, eine Region, größer als Europa, zu ignorieren.

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