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Meinung: Drum prüfe, wer sich ewig bindet

Ob die Türkei in die EU darf, hängt von Rechtsstaatlichkeit ab – nicht vom Seitensprung

Mehrere Tage hat das türkische Eherecht Schlagzeilen in Europa gemacht. Die einen werten den Gesetzentwurf als Beleg dafür, wie viel das Land kulturell von Europa trennt. Die anderen frohlocken, der Rückzug in letzter Minute beweise, wie wichtig die EU-Perspektive für den Reformprozess sei. Beides ist zu kurz gedacht.

Ob Ehebruch mit Gefängnis bestraft wird oder nicht – das taugt nicht als Maßstab für die EU-Fähigkeit eines Landes. Auch Deutschland hat sich mit der Abschaffung der einschlägigen Paragrafen lange schwer getan: bis zur großen Strafrechtsreform von 1969. Gewiss war das ein Fortschritt. Seitensprünge sind in erster Linie ein privater Vertrauensbruch zwischen zwei Verheirateten. Dass staatliche Strafe abschrecke oder Gefängnis (in Deutschland vor 1969 bis zu sechs Monaten) die Betroffenen läutere, darf man wohl bezweifeln.

Die Irritationen in der Türkei und über die Türkei rühren daher, dass der Entwurf als Rückschritt empfunden wurde, als Aufgabe einer erreichten Liberalisierung. Mit der Einengung der Debatte auf das Ehebruchrecht sind aber die Maßstäbe dafür verloren gegangen, was sich gerade in Ankara tut.

Auch in der Türkei war dies nur ein Punkt einer umfassenden Strafrechtsreform, freilich unter umgekehrten Vorzeichen: als Korrektiv. Die Gefängnisstrafe für Ehebruch sollte den Unmut in der regierenden muslimischen AKP-Partei über die übrige Reform dämpfen. Die meisten anderen Veränderungen belegen die Annäherung der Türkei an EU-Standards: Die Strafen für Folter und Menschenhandel wurden deutlich erhöht; Vergewaltigung in der Ehe, sexuelle Belästigung, Organhandel und Verbrechen gegen die Menschlichkeit überhaupt erst zu Straftatbeständen erhoben; und der Meinungsfreiheit hilft es, wenn kritische Äußerungen nicht automatisch als Verunglimpfung des Staates gelten. Natürlich, das alles darf nicht nur auf dem Papier stehen, muss den Weg in den Alltag der Menschen und der Gerichte finden.

Doch befremdlich wirkt es, wenn EU-Regierungen sich zugute halten, sie hätten den Ehebruchparagrafen durch ihre Intervention gekippt. Das spräche nicht für die EU- Fähigkeit der Türkei. Verlässlich sind nur Reformen, die die Türkei aus Einsicht und um ihres eigenen Vorteils willen vorantreibt – nicht solche, die nur dazu dienen, der EU zu gefallen. Denn das könnte im Umkehrschluss heißen: Hat die Türkei ihr Ziel erreicht, die Aufnahme von Beitrittsgesprächen jetzt und die Mitgliedschaft wann auch immer, stoppt sie die Modernisierung wieder.

In einem Monat gibt die EU-Kommission ihre Empfehlung ab, ob Beitrittsgespräche beginnen sollen, im Dezember entscheidet der Rat der Staats- und Regierungschef. Es geht nicht darum, wie groß die Fortschritte sind, sondern ob die Türkei drei Bedingungen ohne Einschränkung erfüllt: dass Demokratie und Rechtsstaat funktionieren, und die Menschen- und Minderheitenrechte geachtet werden. Ökonomische Fragen – ob das Land zum Beispiel den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt aushält – spielen noch nicht die entscheidende Rolle.

Folgende Frage verdient mehr Aufmerksamkeit als das Eherecht: Das Europäische Parlament möchte der Kurdenpolitikerin Leyla Zana einen Menschenrechtspreis aus dem Jahr 1995 übergeben. Sie war erst kürzlich nach zehnjähriger Haft freigekommen. Ihre Reise steht in Frage, weil ein Gericht ihr unter Verweis auf einen neuen Prozess den Pass verweigert. Das gibt es auch in europäischen Rechtsstaaten. Aber es verdient Beobachtung, ob die gleichen Kriterien gelten – auch im Interesse der Türkei und ihrer EU-Ambitionen.

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