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Am 13. Mai entschied der Europäische Gerichtshof, dass die Suchmaschine Google unter bestimmten Umständen den Zugang zu Daten schließen muss.

© dpa

Google und das Recht auf Vergessen: Ein Placebo für die Übergangszeit

Das Urteil zum "Recht auf Vergessen" ist nur ein Placebo für die Übergangszeit. Am Ende wird die Generation über den Umgang mit Netz-Informationen entscheiden müssen, die mit dem Internet aufgewachsen ist.

Das von vielen gefeierte Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist vor allem ein Zeugnis der Verwirrtheit mittlerer Generationen während einer technischen Revolution – und ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für unterbeschäftigte Rechtsanwälte. Jeder zweite Deutsche will seine im Internet dokumentierte Geschichte manipulieren und beruft sich dabei auf ein angebliches „Recht auf Vergessen“. Doch tatsächlich erschwert das Urteil nur das Finden von Dokumenten aus der Vergangenheit; die Quellen, aus denen sich Google speist, werden nicht trockengelegt. Übertragen auf eine analoge Welt ist also erst mal nicht mehr passiert, als dass ein Archivar gezwungen werden kann, die alphabetisch geordneten Trennkarten zwischen alten sortierten Papieren zu entfernen und das Material zu durchmischen.

Julian Barnes hat in seinem Roman „The Sense of an Ending“ beschrieben, wie das mit dem Erinnern und Vergessen in vordigitalen Zeiten war: Den jungen Tony Webster, an den sich der alte Tony Webster erinnert, hat es so nie gegeben; er hat ihn im Laufe der Jahre erst verdrängt, dann vergessen und schließlich neu erfunden. Es ist ein Schock für ihn, als er Briefe findet, die er selbst geschrieben hat und die seine brave Kunstfigur, an die er sich zu erinnern meinte, als fatale Fantasie entlarven – der echte Tony Webster hat das Leben zweier Menschen zerstört. Wegen dieses in jeder Hinsicht menschlichen Zuges misstrauen Historiker der Oral History.

„Secrets are lies“ heißt es dagegen in Dave Eggers’ Roman „Circle“, der die totalitäre Macht einer gigantischen, googleartigen Internetfirma beschreibt. Die Heilsversprechen völliger Transparenz – keine Verbrechen, keine Lügen, jeder profitiert von den in Echtzeit mitzuverfolgenden Erfahrungen aller – entwickeln sich zum gesellschaftlichen Horror. Verdächtig ist, wer etwas verheimlichen will: „Privacy is theft“, der Schutz der eigenen Daten ist ein Verbrechen an der Allgemeinheit.

Vieles von dem, was in „Circle“ – veröffentlicht vor nicht mal einem Jahr – noch utopisch erschien, ist heute, genährt und befeuert auch von Edward Snowdens mitgeteiltem Wissen, Bestandteil täglicher Angst vor einer Mutation des Lebens. Das Gericht hat dagegen nur ein Placebo verteilt für die Übergangszeit. Wie sich der Umgang des Menschen mit seiner eigenen Vergangenheit und mit der anderer Menschen entwickelt, entscheidet nicht der Europäische Gerichtshof, sondern die Generation, die nichts anderes kennt als das Netz.

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