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Ein SPRUCH: Ewige Empörung

Vergeben und vergessen, heißt es bei den Menschen. Das Recht kennt dagegen Gnade und Verjährung.

Vergeben und vergessen, heißt es bei den Menschen. Das Recht kennt dagegen Gnade und Verjährung. Die Verjährung ist die gütige Tante des Rechts, irgendwann trennt sie den Schuldner vom Gläubiger, den Straftäter von seinen Verfolgern. Fast alles verjährt, es ist eine natürliche Milde, die dem Zeitablauf, besser: dem Altern geschuldet ist.

Eine Milde, die bei manchen Delikten umstritten ist, etwa bei Missbrauch. So hat der Bundestag jetzt die Verjährung verlängert, ein Opfer soll sich der Tat als Erwachsener bewusst werden können, erst dann soll die Verjährung zu laufen beginnen. Auch zivilrechtliche Ansprüche können Betroffene bald länger geltend machen. Ein sinnvolles Ergebnis der Debatte, jedoch auch ein Zeichen dafür, dass sie nicht mehr so erwünscht ist, die Verjährung. Vielleicht ist es der Versuch, die allgemein empfundene Beschleunigung etwas zu verlangsamen. Weil die Zeit zu schnell vergeht, soll weniger vergessen sein.

Das passt zur Gegenwartskultur des Internet, die auf zuweilen erschreckende Weise alles in ein überzeitliches Präsens stellt. Die Doktorarbeit von Annette Schavan zum Beispiel, vor Jahrzehnten verfasst, die jetzt als Täuschungstat aktualisiert wurde. Oder ein noch fünf Jahre älterer Buchauszug, in dem der Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit, ehemals Kita-Erzieher, das damalige Geschehen vor seinem „Hosenlatz“ wie folgt beschreibt: „Mein ständiger Flirt mit allen Kindern nahm bald erotische Züge an. Ich konnte richtig fühlen, wie die kleinen Mädchen von fünf Jahren schon gelernt hatten, mich anzumachen.“

Das war lange bekannt, immer ein Skandal und trotzdem: Erst mit der Ablehnung des Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle, dem Mann eine Festrede zu halten, hat es breite Aufmerksamkeit bekommen. Voßkuhle hat gewissermaßen die Verjährung unterbrochen, mehr noch: Mit seiner Absage hat er das Delikt ins Jetzt geholt. Ein Verfassungsrichter wird zum Ankläger, ein Demokratiepreisträger zum Angeklagten; eine in ihren Ämtern gewachsene Bildungspolitikerin zur schummelnden Studentin. Das geschieht, wenn nichts verjährt. Die Betroffenen fallen aus den Rollen, die ihre Geschichte ihnen zugeschrieben hat. Sie müssen alles gleichzeitig sein, was sie je waren. Sie werden unfassbar. Eine Tendenz, die unser Urteil genauer und abwägender machen sollte, statt dessen wird es pauschaler und härter.

Dabei gibt es immer Unterschiede, und es sind nicht nur die, die in der Vergangenheit liegen. Es ist zum Beispiel eine andere Frage, ob ein Politiker wirklich sein Amt verlassen muss, als die, ob er auch noch mit Preisen auszuzeichnen ist.

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