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Erziehung: Die Psycho-Falle

Immer mehr Kinder sind psychisch krank, heißt es. Wir verlieren das Gefühl dafür, was normal und gut ist.

Ich betrachte meinen Sohn, er hat sich seine Turnhose in die Socken gesteckt und will nach draußen. Mir fällt die besorgte Mutter ein, über die ich im Februar mit einer Kollegin geschrieben habe. Es war eine Geschichte über die Angst von Eltern und Grundschulkindern, wegen des geänderten Anmeldeverfahrens in Berlin nicht auf die gewünschte Oberschule zu kommen. Was sie auf keinen Fall wolle, sagte die Mutter, „ist eine Schule, an der die Jungen die Hosenbeine der Jeans in die Socken stopfen wie in Neukölln oder Moabit“. Bloß keine Prolls, keine Psychos, keine verhaltensauffällige Klientel.

Damals begegnete ich bei der Recherche ständig Eltern, die genau wussten, was richtig ist. Ein Vater behauptete, jahrgangsübergreifende Klassen könnten nicht funktionieren, sie seien nicht homogen und die Kinder psychisch höher belastet. Er sagte, das sei statistisch erwiesen. Ich kannte keine solche Statistik. Mein Sohn geht in eine jahrgangsübergreifende Klasse. Ich war irritiert, und als ich begann, mich mit dem Thema psychische Gesundheit zu beschäftigen, wurde ich ängstlich.

Wenn man zum Beispiel den eigentlich harmlosen Satzanfang „Immer mehr Kinder und Jugendliche“ googelt, gibt es 1,18 Millionen Treffer. Und gleich zu Beginn finden sich Aussagen wie „Immer mehr Kinder und Jugendliche bekommen Hörschäden“, „Immer mehr Kinder und Jugendliche werden dick“, „Immer mehr Kinder und Jugendliche saufen sich ins Koma“ und „Immer mehr Kinder und Jugendliche haben psychische Probleme.“ Oder auch: „Immer mehr … werden psychisch krank“, „Immer mehr … müssen sich wegen Depressionen, Angst oder Belastungsstörungen behandeln lassen.“

Wir fingen an, unseren Sohn zu beobachten. Ist es psychisch auffällig, dass er vor dem Zu-Bett-Gehen oft heftig mit den Augen zwinkert, als hätte er eine unheilbare Krankheit? Fachleute wie der Direktor des Deutschen Jugendinstituts und Professor für Sozialpädagogik Thomas Rauschenbach glauben, dass für psychische Auffälligkeiten „die erhöhten Anforderungen in unseren Bildungsinstitutionen verantwortlich sind“. Ich fragte unseren Kinderarzt.

Ich mag den Kinderarzt, weil er selbst vier Kinder hat und durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist, es sei denn, kurz vor seinem Urlaub ist Regen auf Mallorca angesagt. Ob er feststellen könne, dass immer mehr Kinder und Jugendliche psychische Leiden hätten? Er sagte lange nichts, er tat so, als würde er überlegen – er kennt meinen Beruf. Dann antwortete er: „Nein, kann ich nicht bestätigen.“

Ich glaubte ihm nicht.

Es gibt so viele Geschichten, die zu den „Immer-mehr“-Sätzen passen. Etwa die von dem Mädchen, das auf ein gutbürgerliches Gymnasium in Zehlendorf geht. Erst hatte sie nur Kopfschmerzen, irgendwann bekam sie eine Dauer-Regelblutung und Angstzustände und musste länger zu Hause bleiben. Ein anderes Mädchen hatte Angst, sozial nicht mit ihren Mitschülern mithalten zu können. Die Eltern mussten es immer weit vor der Schule aus dem Auto lassen, damit niemand das als nicht statusgerecht empfundene Fahrzeug zu sehen bekam. Ihre Schulleistungen sanken rapide. Auch sie musste psychisch behandelt werden.

Meine Kollegin hatte einen Bildungsforscher mit den Worten zitiert: „Schule wird gnadenlos.“ Der Mann muss recht haben, dachte ich. Wenn die Gesellschaft gnadenloser wird, dann auch die Schule. Das sagen ja auch die Experten: Die gesellschaftlichen Anforderungen werden höher, die Bedingungen für Schüler härter, der Konkurrenzkampf größer. Die Bildungsforscher können diese Bedingungen sehr gut negativ ausmalen, die gesellschaftliche Ausgangslage von Kindern erscheint einem dann sehr düster.

Bei dem Soziologen Klaus Hurrelmann etwa „wittern Väter und Mütter die Gefährdung ihres erreichten Status“. Ihre Unruhe und Nervosität übertrage sich auf die Kinder. Denen bleibe „gar nichts anderes übrig, als sich auf die schulische Leistungstätigkeit wie auf eine industrielle, quasi den Gesetzen der Lohnarbeit folgende Arbeit einzurichten“, schreibt er und folgert: „Die hohen gesellschaftlichen Erwartungen schon an Kinder in der Grundschule, können unterschwellig zu psychischer, psychosomatischer und körperlicher Anspannung führen.“ Ich brauchte jetzt endlich einen Fachmann, mein Kinderarzt blieb mir suspekt.

Ich besuchte Professor Michael von Aster, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Westend. Aster ist eine Kapazität auf seinem Gebiet, er hat sogar eine eigene Schule auf dem Klinikum-Gelände gegründet. Er sagt, 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die zu ihm kommen, haben psychische Probleme, die aus dem „schulischen Erlebensraum“ stammen. Damit meint Aster Befunde wie „Gefühle von Scheitern“, „Leistungsdruck“ oder „chronisches Versagen aus Angst“. Aster findet, das Schulsystem sei an allem schuld, es sei ein Instrument zur sozialen Spaltung. Die Patienten bei Aster kommen aus allen sozialen Milieus, sie sind Waldorfschüler ebenso wie Schüler aus Förderschulen. Asters Klinik ist voll. Er sagt, es werden immer mehr, aber er habe leider keine Zahlen, die das belegen. Studien darüber werden kaum bezahlt, sagt Aster zum Abschied.

Die wichtigsten Studien kann man an zehn Fingern abzählen. Die Kiggs-Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, die Bella-Studie zum Sonderthema „Psychische Gesundheit“, der von der WTO initiierte Jugendgesundheits-Survey und der vom Psychologenverband vorgelegte Bericht zur Kinder- und Jugendgesundheit in Deutschland. Dann gibt es noch die Shell-Studien, die Arbeiten des Deutschen Jugend-Instituts und den 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. Man kann Tage damit zubringen, aber am Ende weiß man nie, ob die Ergebnisse nun beunruhigend sind oder nur so getan wird, weil sonst keine weiteren Studien finanziert würden.

Ich lernte: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen psychischen Auffälligkeiten und niedrigem sozialen Status. Aber bei wirklich psychisch kranken Kindern wird der soziale Status wieder weniger wichtig. Ich war verwirrt. Dann lieber die Gesamtergebnisse: Bei rund 22 Prozent aller untersuchten Kinder und Jugendlichen gibt es Hinweise auf psychische Auffälligkeiten, zehn Prozent werden „als im engen Sinn psychisch auffällig beurteilt“.

Aber was sind Hinweise? Und sind die zehn Prozent wirklich „Auffälligen“ ein zwar nicht zu vernachlässigender, aber auch ein nicht besorgniserregender Anteil? Und wie schafft es die übergroße Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, trotz der angeblich so schlechten Rahmenbedingungen stabil durch die Schulzeit zu kommen? Über diese Mehrheit erfährt man nichts, weil immer nur gefragt wird, warum es einer nicht schafft, Defizitforschung nennt man das.

Die sogenannten Verhaltensauffälligen, von denen man in den Studien liest, sind nervös und können sich nicht konzentrieren, viele von ihnen leiden angeblich an der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Ein Schulpsychologe, den ich treffe, sagt, dass Schule und Gesellschaft sich eine Art „Idealschulkind“ wünschten. Es soll, pauschal gesagt, den „Normen“ entsprechen. ADHS entspricht nicht der Norm, man braucht zu viel Zeit, um sich mit ADHS-Kindern zu beschäftigen. Dabei sei, sagt der Mann, ADHS in manchen Berufen sogar von Vorteil, etwa bei Journalisten, und auch in Familien mit sehr vielen Kindern, vor allem ausländischen Familien, würde ein Kind mit ADHS gar nicht auffallen. Es wird als normal angesehen. Der Psychologe sagt, erst eine bestimmte Betrachtungsweise der Gesellschaft macht Kinder zu Verhaltensauffälligen. 20 Prozent gelten bei uns als hyperaktiv.

Auf die Frage, wie bedrohlich die Zahlen sind, geben Experten nie eine klare Antwort. Einer sagt mir: „Wir müssen keine Angst haben. Das sind normale Zahlen, mit denen wir leben müssen wie mit Schnupfen.“ Ich schiele auf die großen Zahlen in den Studien, sie liegen bei 80 oder sogar über 90 Prozent und beziffern die „Unauffälligen“, die „Gesunden“, die ein „ausgeprägtes Gefühl von Wohlsein“ haben. In der jüngsten Shell-Studie heißt es, 59 Prozent der Befragten sehen zuversichtlich in ihre Zukunft. Ein Satz aus der Kiggs-Studie lautet: „Die den Auswertungen zugrunde liegenden Grenzwerte erscheinen zu liberal und führen zu einer Überschätzung der Häufigkeiten psychischer Problemlagen.“

Ich lege die Studien beiseite und suche Zuflucht bei den neutralen Zahlen des Statistischen Bundesamts: Sie belegen etwa sinkende Suizid- und Kriminalitätsraten bei Jugendlichen, einen sinkenden Anteil von minderjährigen Schwangeren und weniger Jugendliche ohne Schulabschluss. Die Zahl der Kinder- und Jugendpsychotherapeuten dagegen steigt stetig. Ebenso wie die Abiturienten und die Zahl der Jugendlichen mit Hochschulreife. Ausgerechnet im prekären Berlin besuchten im Schuljahr 2009/10 stattliche 48,5 Prozent aller Schüler das Gymnasium. Es ist nicht nur so, dass immer mehr Kinder aufs Gymnasium gehen, es versagen auch immer weniger.

Bei Hurrelmann finde ich jetzt diesen Satz: „Die heutige junge Generation ist durch ihre Mentalitätslagerung in der Lage, systematisch zu denken. Sie kalkuliert Vorteile und Nachteile und hat eine schnelle Auffassungsgabe.“ Besonders auffällig sei die Reaktionsfähigkeit in komplexen Situationen und die Bereitschaft zum Multitasking. Anscheinend kommen unsere Kinder trotz steigender Konkurrenz um die besten Bildungsabschlüsse ganz gut klar mit ihrem Leben. Nach all den Forschern, Ärzten und Psychologen besuchte ich jetzt aber endlich auch einen Experten, der wirklich aus der Praxis kommt: einen Lehrer.

Jakob Pauli, Anfang 40, arbeitet an dem eingangs erwähnten bürgerlichen Gymnasium, an dem einige Mädchen sich so sehr unter Druck fühlten, dass sie krank wurden. Pauli kennt auch andere Beispiele. Generell hält er seine Schüler für „klar strukturiert, mit klaren Zukunftskonzepten“. Er staunt oft, wie gut die Jugendlichen ihr Zeitbudget einteilen und „auch neben der Schule noch viel machen“.

In Friedrichshain, wo er unterrichtet hat, sind einige nach der 10. Klasse auf ein anderes Gymnasium gewechselt. Dort erschien es den Schülern leichter, das Abitur zu machen. „Die haben ihre ganz eigenen Strategien, um mit der Schule klarzukommen“, sagt Pauli. Ein strategischer Wechsel – zu meiner Schulzeit wäre das undenkbar gewesen! An Paulis aktueller Schule wiederholen zehn Prozent der Schüler, die nach dem Wegfall der elften Klassen von der zehnten direkt in die Semesterphase kommen, freiwillig das erste Semester, um ein besseres Abitur zu machen.

Die größten psychischen Belastungen sieht Pauli in Klassenstufe neun. Vor allem den Leistungswilligen, die sich selbst unter Druck setzen oder vom Elternhaus unter Druck stehen, sei der Stress anzusehen. Sie leiden unter Kopf- und Bauchschmerzen. In seiner neunten Klasse sind es drei von 32. Vier Schüler fallen aufgrund von Drogen, Alkohol oder Familienproblemen schulisch ab, ihre Schwierigkeiten sind eher von außen in die Schule getragen. Sechs gehören zur den „Super-Souveränen“, die gut durch den Stoff kommen und trotzdem Zeit für Freizeit haben. Der Rest gehört zum breiten Mittelfeld, in dem Strategen und Taktierer die große Mehrheit bilden. „Die schauen sich genau an, wann sie wie viel machen müssen“, sagt Pauli.

Der Lehrer spricht mit großer Zuneigung von seinen Schülern, er wünscht sich kein Idealkind, Angst verstellt nicht seinen Blick. Aber es ist die Angst, die uns Eltern umtreibt, wenn wir unsere Kinder kritisch beäugen, ihre Potenziale scannen und sie mit anderen vergleichen. Mit dieser Angst verlieren wir unser Vertrauen in die Kinder und das Grundgefühl dafür, was richtig oder falsch, beängstigend oder absolut normal ist. Ich bin mir jetzt sicher, unseren Kindern geht es gut. Wenn mein Sohn wieder mit den Augen zuckt, zwinkere ich zurück. Und wenn er die Jeans in die Socken stopft – meinetwegen. Können sich die Hosenbeine beim Radfahren wenigstens nicht in den Speichen verheddern.

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