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Meinung: Europa klagt zurück

Die EU-Kommission zieht vor Gericht – obwohl sie dort viel zu verlieren hat

Europa wehrt sich. Deutschland und Frankreich verstoßen mehrere Jahre in Folge gegen den Stabilitätspakt, wollen aber die dafür vorgesehenen Sanktionen nicht akzeptieren. Selbst die moderaten Vorschläge der Kommission haben sie im Ecofin, dem Rat der Finanzminister der EU-Staaten, mit Machtpolitik vom Tisch gewischt. Da ist es nur konsequent, dass die Kommission klagt. Aber ist es auch klug? Die beiden deutschen Kommissare sind unterschiedlicher Ansicht, wie überhaupt die Meinungen in der Kommission geteilt sind. Das zeigt, die Angelegenheit ist nicht leicht zu entscheiden.

Für die Klage spricht vor allem die prinzipielle Überlegung: Wer schützt Europas gemeinsame Interessen vor dem Egoismus der Nationalstaaten? Wenn Deutschland und Frankreich wenigstens schuldbewusst wären und glaubwürdig Besserung gelobten. Aber nein, sie brechen kalt lächelnd den Pakt, werden auch 2004 und 2005 gegen die Stabilitätskriterien verstoßen – und tun so, als wäre es eine Zumutung, Vertragsverpflichtungen einzuhalten. Mit dieser Arroganz haben sie nicht nur die Berufseuropäer in Brüssel, sondern auch viele kleinere EU-Staaten gegen sich aufgebracht. In Brüssel wird jetzt süffisant eine Untersuchung zitiert, nach der Frankreich, Deutschland und Belgien, die selbst ernannte Avantgarde der Integration, am schlechtesten abschneiden bei der Umsetzung des europäischen in nationales Recht.

Gegen die Klage sprechen pragmatische Gründe. Erstens kann von einer Besorgnis erregenden Euroschwäche derzeit keine Rede sein. Doch geht es nicht um kurzfristige Effekte, sondern um das langfristige Vertrauen: Wie soll man, wenn die Stabilität des Euro vielleicht wirklich bedroht ist, gegen Sünder vorgehen, wenn heute die beiden größten Volkswirtschaften der EU straflos gegen den Pakt verstoßen und die Kommission ignorieren, die „Hüterin der Verträge“?

Zweitens das Prozessrisiko. Die Kommission darf ihn nur führen, wenn sie sicher ist, ihn zu gewinnen. Der Europäische Gerichtshof wird jedoch nicht über die potenzielle Gefahr der Verschuldung öffentlicher Haushalte urteilen, sondern über Zuständigkeitsfragen: Hat der Ecofin die Rechte der Kommission verletzt, als er bei seinem Beschluss, das Sanktionsverfahren gegen Deutschland und Frankreich auszusetzen, so stark von der Kommissionsvorlage abwich? Wenn die Kommission unterliegt, wäre die Lage schlimmer als jetzt: Sie wäre geschwächt, die nationalen Regierungen könnten mit dem Pakt erst recht nach Belieben umgehen.

Drittens die Überlegung, wie es weitergehen soll. Die Kraft des Stabilitätspakts beruht im Wesentlichen auf dem gemeinsamen politischen Willen. Mag sein, die Chancen, Berlin und Paris in Verhandlungen auf wichtige Zugeständnisse und Selbstverpflichtungen festzulegen, waren begrenzt. Nun aber, nachdem der Machtkampf vor Gericht getragen wird, dürfte deren Bereitschaft zu Entgegenkommen dramatisch gesunken sein.

Eine verkorkste Situation: Die Kommission setzt auf alles oder nichts. Sie strengt aus prinzipiellen Gründen eine Klage an, die sie keinesfalls verlieren darf – und von der selbst im Falle eines Sieges unklar ist, ob es der Sache nützt. Ein Erfolg würde nur ihre Rechtsposition in der Frage stärken, wie bindend Vorlagen der Europäischen Kommission bei Entscheidungen des Europäischen Rates sind, in dem die nationalen Regierungen sitzen.

Aber so ist die Stimmung in Brüssel und im Parlament in Straßburg. Europa muss sich wehren – und die Frage klären, so oder so. Eine weitere Hängepartie um die Durchsetzung der Stabilitätskriterien höhlt den Pakt schleichend aus. Bei einer Niederlage vor Gericht wäre er sofort tot. Da kann man nur auf Sieg setzen. Wenn das mal gut geht.

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