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Europawahl: Der Sexappeal ihres zornigen Dagegenseins

Das kraftstrotzende China verbittet sich Belehrungen über Humanität. Indien träumt von nationaler Wiedergeburt. Und Europa? Das zweifelt hingebungsvoll an sich und kultiviert den Selbsthass. Jedenfalls ein Teil Europas.

Es ist ein anschwellender Unmutsgesang. Immer lauter tönt diese Melodie durch Europas Lande: Der Euro spaltet, Brüssel verschwendet, Martin Schulz langweilt, Jean-Claude Juncker auch, die EU-Bürokratie ist bürgerfern, anmaßend und arrogant, die Europäische Zentralbank nicht demokratisch legitimiert, dem Norden droht eine ruinöse Schulden- und Sozialunion, dem Süden die ewige Arbeitslosigkeit, Europa fehlt das Narrativ, das witzigste Wahlkampfplakat hat „Die Partei“ mit dem Slogan „Merkel ist doof“. Früher dominierten die Euro-Pathetiker den Diskurs – Frieden, Versöhnung und Wohlstand für alle –, heute finden die Euro-Empörten zunehmend Resonanz.

Man kann darin, ganz entspannt, einen Fortschritt sehen, weil endlich offen über Ziele und Möglichkeiten diskutiert wird. Man kann aber auch ein gewisses Unwohlsein dabei empfinden. Nur selten bekennen sich die Empörten zu ihren langfristigen Intentionen. Sind es proeuropäische Europakritiker, die das Projekt verbessern, mitgestalten, voranbringen wollen? Oder sind es antieuropäische Europakritiker, die die Rückkehr zum Nationalstaat, zu nationalen Währungen und Landesgrenzen propagieren, sich nach einem diffusen Gestern sehnen? Einige haben sich in dieser Ambiguität bewusst eingerichtet, sie genießen den Sexappeal ihres zornigen Dagegenseins, empfinden klammheimliche Freude über Bankenpleiten und Schuldenkrisen: Hurra, hurra, die Schule brennt.

Europa steht auch für historische Prägungen

Doch der Unterschied ist entscheidend. Europa war stets mehr als ein Binnenmarkt, der auf einem Kontinent, der zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg erlitt, durch enge wirtschaftliche Verzahnung Frieden stiftet. Nein, Europa steht auch für vieles andere, für historische Prägungen, die Identitäten formten und Werte schufen – Antike, Römisches Reich, Renaissance und Reformation, Aufklärung, Emanzipation, Individualismus, Rechtsstaat, Menschenrechte, Ökologie, Multilateralismus.

Soll diese Einheit aus derzeit 28 Ländern und 500 Millionen Menschen im globalen Konzert der Mächte auch weiterhin eine Rolle spielen? Das ist die Dimension, die jeder im Kopf haben sollte, der an diesem Wochenende wählen gehen darf.

Europa zweifelt hingebungsvoll an sich und kultiviert den Selbsthass

Wladimir Putin will ein möglichst schwaches Europa. Er verachtet die „Irrlehre von Demokratie und Menschenrechten“. Eine amerikanische Diplomatin sagte vor kurzem verächtlich „Fuck the EU“. Das kraftstrotzende China verbittet sich Belehrungen über Humanität und Meinungsfreiheit. Indien träumt von nationaler Wiedergeburt. Und Europa – zweifelt hingebungsvoll an sich und kultiviert den Selbsthass. Jedenfalls ein Teil Europas. Das widerspricht dem aufgeklärten Eigeninteresse der Europäer.

Reformdruck, Sparprogramme, Verschuldung, Arbeitslosigkeit: Die vergangenen fünf Jahre waren die härtesten in der Geschichte der EU. Viele Menschen sind enttäuscht, ja verbittert. Hinzu kommen verstärkte Vorbehalte gegen Einwanderer. Den Protestwählern allerdings steht die große, meist schweigende Mehrheit jener gegenüber, die unbeirrt an Europa, den Euro und die EU glauben. Und die bereit sind, für das Wohl des Ganzen auf partikulare Souveränitätsrechte zu verzichten. Nicht resigniert, nur etwas desillusioniert. Diese Mehrheit hat Repräsentanten verdient, die so stark vom Projekt Europa überzeugt sind, dass sie den leidenschaftlichen Kampf darum nicht scheuen und selbst härteste Kritik aushalten – jenseits von Pathos, von Bürokratismus, von Schönrednerei.

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