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Was Wissen schafft: Ganz oder gar nicht

Die Stammzelldebatte drückt sich um die ethische Kernfrage - ob ein im Labor hergestellter fünf Tage alter Embryo die unantastbare Menschenwürde besitzt.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Staat, der diesen Satz – mit gutem Grund – zuvorderst in seiner Verfassung verankerte, darf durchaus eigene Wege in der Biopolitik gehen, auch wenn viele andere den Rubikon längst überschritten haben. Die heftige Diskussion um die Stammzellforschung ist deshalb richtig und notwendig. Am morgigen Donnerstag wird der Bundestag jedoch zum zweiten Mal eine Debatte führen, die das ethische Kernproblem meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Zur Wahl steht entweder die Beibehaltung der bisherigen Regelung, wonach nur vor Januar 2002 im Ausland hergestellte Stammzelllinien für die Forschung verwendet werden dürfen. Die bigotte Begründung für diese „Stichtagsregelung“: So profitiert Deutschland zwar nachträglich vom Tod der ausländischen Embryonen, aber es fördert kein weiteres Embryosterben, da ja die deutsche Nachfrage fehlt. Der Gegenantrag fordert eine Verschiebung des Stichtages auf Mai 2007, damit die deutsche Forschung auch von den rund 500 neueren, viel besseren Zelllinien profitieren kann. Befürworter dieses „einmaligen“ ethischen Nachschlages, darunter die Kanzlerin und die evangelische Kirche, argumentieren mit der Verantwortung für die Patienten, die dadurch eines Tages gerettet werden könnten.

Mittels solcher „Verantwortungsethik“ die Menschenwürde des Embryos einzuschränken, ist jedoch ein höchst bedenkliches Unterfangen. Das Konzept der Menschenwürde verbietet es, die Träger dieser Würde gegeneinander abzustufen. Die Gleichheit aller Mitglieder der Familie der Menschen ist die Basis der Menschenrechte und der Demokratie. Alle Menschen sind gleich würdig, keiner darf zum Objekt des anderen gemacht werden. Menschenwürde ist immer ganz oder gar nicht.

Falls also der frühe Embryo im Labor Menschenwürde besitzt, kann diese nicht abgestuft oder gegen das Leben von Patienten aufgewogen werden. Wir kämen ja auch nicht auf die Idee, einen Fötus oder ein Kind zu opfern, um mit dessen Organen anderen das Leben zu retten. Aus demselben Grund hat das Bundesverfassungsgericht 2006 den Abschuss entführter Flugzeuge verboten, selbst wenn das Leben der Passagiere ohnehin verloren ist.

Die ethische Kernfrage ist deshalb, ob ein im Labor hergestellter, fünf Tage alter Embryo („Blastozyste“) die unantastbare Menschenwürde besitzt. Die katholische Kirche argumentiert neuerdings mit molekularbiologischen Erkenntnissen und der „Potenzialität“: Die Blastozyste enthalte alle Gene eines Menschen und würde im Mutterleib zu einem Menschen heranwachsen. Mit diesem Argument müssten jedoch auch in das „totipotente“ Embryonalstadium rückprogrammierte Hautzellen wie Menschen behandelt werden, was offensichtlich unsinnig wäre. Außerdem kann die „Potenzialität“ theoretisch schon vor der Befruchtung durch genetische Manipulationen verhindert werden – nach katholischer Logik ließe sich die Menschenwürde also beliebig ein- und ausschalten.

Die Doktrin des Heiligen Stuhls ist aber nicht nur in ihrer (erstaunlich weltlichen) Begründung, sondern auch bezüglich ihrer Konsequenzen unhaltbar. Millionen Frauen töten regelmäßig bis zu 14 Tage alte Embryos durch die „Spirale“ – ist Deutschland deshalb ein Land von Mörderinnen? Andererseits müssen, zum Schutz der Labor-Blastozysten, hierzulande jedes Jahr einige hundert Föten sterben: Weil in Deutschland jede im Labor hergestellte Blastozyste sofort eingepflanzt werden muss, produziert die In-vitro-Befruchtung massenweise Mehrlingsschwangerschaften. Die überzähligen Föten dürfen bis zur Geburt abgetrieben werden.

Die Beispiele zeigen: Das moralische Empfinden der Deutschen ist vom dogmatischen Standpunkt der katholischen Kirche meilenweit entfernt. Hierzulande werden nicht einmal Blastozysten im Mutterleib als Träger der Menschenwürde angesehen. Da ist es schlicht absurd, künstlich hergestellte, nur im Labor existierende Blastozysten den Menschen im wirklichen Leben gleichzustellen.

Die Menschen in Deutschland, einschließlich der Frauen mit Spirale und der Wissenschaftler, sind keine mordenden Barbaren und müssen nicht katholisch missioniert werden. Sie haben durchaus ein funktionierendes Moralempfinden, auch und gerade wegen der Vorgeschichte ihrer Verfassung. Diese kollektive Moral zu formulieren und ihr eine Stimme zu verleihen, ist die jetzt anstehende Aufgabe des Bundestages.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle.

Alexander S. Kekulé

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