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Jan Philipp Albrecht ist innen- und justizpolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament.

© Fritz Schumann

Gastbeitrag: Schluss mit der Doppelmoral in der EU

Ungarn mahnt Europa: Wer sich nicht einmischt, macht sich mitschuldig. Doch im Rat der Europäischen Union lässt man sich gegenseitig gewähren, schreibt der innen- und justizpolitische Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament.

Seit Beginn der Verfassungsreformen in Ungarn vor knapp zwei Jahren gab es zahlreiche Ermahnungen an die Regierung Orban. Was ist geblieben? Nichts. Selbst die von einer knappen linksliberalen Mehrheit im Europäischen Parlament eingeforderte Überprüfung der Verfassungsentwürfe seitens der Europäischen Kommission verläuft im Sande.

Eine echte Sanktionierung Ungarns für einen Verstoß gegen die Grundwerte der EU im Rahmen des Artikels 7 des EU-Vertrages wurde seitens der Europäischen Volkspartei, der sowohl die CDU und CSU als auch Orbans Partei Fidesz angehören, nach dem Motto „eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ aufgehalten. Es blieb der Kommission nur der Weg über begrenzte Vertragsverletzungsverfahren, die vor dem Europäischen Gerichtshof häufig Jahre dauern und nicht selten von neuer Gesetzgebung oder den Realitäten überholt werden.

Obwohl der ungarische Regierungschef Viktor Orban vor dem Europäischen Parlament versprochen hatte, dass er sich den Nachbesserungswünschen der EU fügen würde, tut er nun nichts anderes, als seine weitgehenden Verfassungsreformen einfach durchzuziehen. Die Änderungen des vierten Kapitels ähneln den Strukturen totalitärer Staaten. Die Unabhängigkeit der Justiz wird eingeschränkt, der Überprüfungsspielraum des Verfassungsgerichts auf reine Verfahrensfragen begrenzt. Unliebsame Richter werden in den Zwangsruhestand versetzt, politische Minderheiten und kritische Medien im Grunde mundtot gemacht. Die Strategie Orbans geht auf: Sollte es dennoch irgendwann ein Vertragsverletzungsverfahren geben, haben die Änderungen in Ungarn längst ihre Wirkung gezeigt. Kein unliebsamer Verfassungsrichter wird dann zurückgeholt, kein zum Staatsdiener gemachter Datenschutzbeauftragter wieder unabhängig sein.

Doch im Grunde verhält sich Orban nicht anders, als es ihm die Staats- und Regierungschefs der EU über Jahre vorgemacht haben. Auch Merkel & Co betreiben eine Politik, die die gemeinsamen Entscheidungen auf EU-Ebene missachtet. Eine große Anzahl an Vertragsverletzungsverfahren wegen nicht umgesetzter EU-Regeln vor dem Europäischen Gerichtshof laufen gegen die Bundesregierung. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Justice in Europe“ verstoßen alle(!) Mitgliedstaaten der EU gegen zahlreiche grundlegende Bestimmungen der Straßburger Menschenrechtskonvention des Europarates.

Doch im Rat der Europäischen Union herrschen das Gebot der Diplomatie und ein geheimer Konsens: In die Angelegenheiten eines Staates wird nicht eingegriffen. Und zwar ganz gleich, ob es konservative oder sozialdemokratische Machthaber sind – die Durchsetzung von Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit liegt in der Hand der jeweiligen Regierung. Die Rufe nach gemeinsamen Werten, wie sie jetzt wieder nach Ungarn und zuvor nach Rumänien gerichtet waren, verhallen in einem gewollten Vakuum. Man verbittet sich die Einmischung.

Angela Merkel verteidigt eine gefährliche Doppelmoral, wenn sie jetzt nicht den Schritt zu einer ausnahmslosen Unterwerfung aller Mitgliedstaaten unter eine vereinfachte Kontrolle und Sanktionierung durch das Europäische Parlament und den Europäischen Gerichtshof geht. Dieser Schritt ist in einer Wertegemeinschaft, wie die EU sie ist, überfällig.

Der Autor ist innen- und justizpolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament.

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