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Urteil. In der kommenden Woche entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl.

© dpa

Gastbeitrag zur Europawahl: Im deutschen Interesse

Bei der Europawahl sollte die Sperrklausel nicht abgeschafft werden. Das Land mit dem größten Sitzkontingent würde sich durch die Entsendung vieler Kleinstparteien selbst schwächen.

In dem am 26. Februar zu erwartenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Drei- Prozent-Sperrklausel geht es um viel: vor allem aber um politische Macht. Da die im November 2011 vorgetragenen Argumente des Gerichts gegen die Fünf-Prozent- Klausel weiterhin gelten dürften, ist davon auszugehen, dass auch die Drei-Prozent-Hürde gekippt wird. Aber wäre in der europäischen Wahlrechtsfrage nicht mehr Pragmatismus geboten? Schaut man sich die Fakten an, stößt man auf einige interessante Überraschungen.

Erstens gibt es in fast allen Mitgliedsstaaten faktisch Zugangsbeschränkungen zum Europäischen Parlament. EU-Mitgliedsstaaten sehen entweder eine Fünf-Prozent-Klausel (zehn Länder), eine Vier-Prozent-Hürde (vier Länder) oder eine Drei-Prozent-Sperre (zwei Länder) vor. Formal gesehen besteht damit in einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten (16 von 28) eine gesetzliche Hürde.

Zweitens befindet sich unter den zwölf Mitgliedsstaaten ohne gesetzliche Hürde wiederum eine große Anzahl der kleineren und kleinsten Mitgliedsstaaten. Ein Beispiel zur Verdeutlichung der Konsequenzen hieraus: Dänemark entsendet 13 Abgeordnete ins Europäische Parlament, hat hierfür aber keine gesetzliche Hürde formuliert. Um eines der 13 Mandate zu erringen, müsste eine Partei rein rechnerisch somit knapp acht Prozent der Stimmen erreichen. Daher besteht in Dänemark zwar keine gesetzliche, aber eine (erhebliche) „natürliche“ Hürde.

Der Zugang zum Parlament ist auf diese Weise in 26 Mitgliedsstaaten faktisch erheblich beschränkt. Folglich hätte Deutschland selbst mit einer gesetzlichen Drei-Prozent-Hürde neben Großbritannien und Spanien die drittniedrigste Zugangsbeschränkung in der gesamten Europäischen Union.

Drittens ist es auch grundlegend falsch anzunehmen, dass sich unter den 161 nationalen Parteien im Europaparlament eine erhebliche Anzahl an Splitterparteien befände und somit die große Integrationskraft der europäischen Fraktionen auch für derartige Parteien bewiesen sei. Die überwältigende Mehrzahl der von den Mitgliedsstaaten entsandten Parteien sind in ihrer Heimat – genau wie Union, SPD, Linke, Grüne und FDP – die zentralen Akteure im politischen System. Es gibt nur wenige Parteien (22 von 161), die ausschließlich im Europäischen Parlament vertreten sind. Hingegen werden deutlich mehr Parteien (47 ), die in den nationalen Parlamenten vertreten sind, aufgrund ihrer Größe durch die nationalen Zugangsbeschränkungen von Straßburg und Brüssel ferngehalten. Den Einzug schaffen in den allermeisten EU-Staaten folglich nur die wichtigsten Parteien.

Michael Kaeding ist Professor für Europäische Integration an der Universität Duisburg-Essen.
Michael Kaeding ist Professor für Europäische Integration an der Universität Duisburg-Essen.

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Warum sollte daher ausgerechnet das Land mit dem größten Sitzkontingent eine Ausnahme machen und eine ganze Reihe von Kleinstparteien entsenden? Dies ist nicht nur unplausibel, sondern hat auch einen wichtigen politischen Aspekt: Will man in Brüssel etwas erreichen und die Interessen seiner Wähler zur Geltung bringen, gelingt dies nur als Mitglied einer Fraktion. Ob die vielen deutschen Kleinstparteien problemlos in die bestehenden Fraktionen integrierbar sind und somit überhaupt den Wählerwillen vertreten können, ist reine Spekulation und nicht Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit. Schließlich wird sich so mancher Wähler fragen, ob die penibelste Einhaltung der Gleichheit der Wahl wirklich wichtiger ist, als dass seine Stimme auch eine tatsächliche Wirkung im Parlament entfacht.

Zweifelsfrei wäre ein einheitliches europäisches Wahlrecht die eleganteste Lösung mit der höchsten demokratischen Qualität. Da wir ein solches bei dieser Wahl nicht haben werden, müssen wir eine pragmatische Lösung für unser Europawahlrecht finden. Hierbei gilt es über den nationalen Tellerrand hinaus zu schauen. Tatsächlich sieht (fast) keiner der anderen 27 Mitgliedsstaaten in einer Zugangsbeschränkung eine reale Gefahr für die Wahlgleichheit. Schon gar nicht bei einer so niedrig angelegten wie der von drei Prozent. Deutschen Interessen und somit den Interessen der Wähler stünde eine orthodoxe Rechtsinterpretation entgegen.

Der Autor ist Professor für Europäische Integration an der Universität Duisburg-Essen.

Michael Kaeding

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